Daten-Burka
Die Welt verändert sich. Das ist der Grund dafür, dass Menschen über 40 so oft "früher" sagen. Mit diesem früher verbunden ist sicherlich Wehmut. Früher: Das ist die Zeit, in der wir noch bei uns waren, die wir kannten und kennen, die wir verstanden und verstehen. Wahrscheinlich sagten die über 40-Jährigen aller Generationen schon immer gerne "früher", denn Fortschritt gibt es immer und also genügend Grund, sich über den Weltenwandel zu beklagen und den Blick verklärend zurück zu wenden.
Googles-neustes Elaborat, Straßen-Gucken im Internet, gibt Anlass, mal wieder an früher zu denken, als all das noch nicht möglich war; vor allem technologisch nicht. Als aber die Menschen auch ganz allgemein noch keinen Blog-Account und digitale sozialen Netzwerke kannten, sondern ihre Weltanschauung mittels Buttom am Jackenrevers und Autoaufkleber zu Markte trugen. Als man noch zu Hunderttausenden auf die Straße ging, weil ein Volkszähler wissen wollte, ob man mit Öl oder mit Gas heize.
Zum Auf-die-Straße-gehen freilich hat man heute keine Zeit mehr, die stiehlt das Netz. Und aktuell zumindest gibt´s auch gar keinen Grund dafür, jedenfalls nicht wegen dieses Surrogats einer Volkszählung. Street-View ist nämlich wirklich so dürftig! So langweilig! So wenig paradigmenbildend! So wenig bedrohlich! Hausfassaden sind zu sehen aus der Nachbarschaft, banal wie in der analogen Realität. Jedenfalls, sofern Mieter/Eigentümer nicht auf der "Datenburka" (SZ vom 20.11.2010) bestanden und ihren Besitz haben verpixeln lassen, auf dass er jetzt, wenn schon nicht die reale, so doch die virtuelle Umgebung verschandele. Als ob der Blick auf Häuser ein zu privatisierender sei. Auf solch eine Idee kommt man auch nur in einer mit dem Beamtentum sozialisierten Gesellschaft.
In den meisten Fällen hat das "dritte Auge", an das Virtuelle gut gewöhnt, sowieso keine Mühe damit, die Verschleierung zu entpixeln und sich auch das sechste Reihenhaus nebenan recht zuverlässig vorzustellen. Ich frage mich also vielmehr: Wogegen wehrt er sich denn da wieder, der deutsche Michel, dem doch auch sonst das Gemeinwesen, die gesellschaftliche Frage, das bürgerliche Recht so von Herzen gleichgültig sind? Warum will er seine Facebook-, Amazon- und Ebay-Konten hinter anonymisierten Hausfassaden pflegen? Warum sieht er im Zusammenwachsen seiner Umgebung keine Chancen, sondern Bedrohung? Was quält ihn eigentlich so sehr?
Jeder Jeck ist anders
Flaschen und Glas verboten im Kölner Straßenkarneval
Als ich vor nunmehr 23 Jahren in die rheinische colonia kam war meine heutige Ehefrau so ziemlich der erste Nicht-Nubbel in vollständig verrücktem Umfeld, der mir Imi über den Weg lief und zwar in einer super-szenigen Szenekneipe im damals noch ultra-angesagten Szene-Veedel (wie man Stadtviertel hier nennt) "Südstadt". Karneval war´s. Südstadt-Karneval. Der verhält sich zum Sitzungskarneval a lá ZDF/ARD/RTL so wie Mario Barth zu Lutz Görner oder meinetwegen zu Jürgen Becker. Und zu den biederen tanzenden Faschingsweibern des Münchner Viktualienmarktes? Nichts weiter davon. Damals war das alles pure Anarchie. Die Straßen bebten. Zehntausende veranstalteten einen atemberaubenden, dionysischen Hexensabbat. Wer sich nicht mitreißen lassen wollte von diesem Chaos ging am besten nach Hause- heim ins Westfälische, oder so.
Die Südstadt hat viel von diesem Charme verloren; abgetreten hat sie ihren Kultstatus an nördlichere Quartiere, doch geändert am Straßenkarneval hat sich auch dort bis heute nichts. Die Leute strömen, wenn mal wieder 11.11. ist, in Massen dorthin oder auf den Heumarkt, den Altermarkt und den Wilhelmplatz im eh schon reichlich anarchischen Köln-Nippes, um dem drängenden Ritus zu huldigen. Das ist sich aus Urmythen speisendes Mittelalter und proletarische Lebensparty- eine Mischung, für die die Stadt ja berühmt ist. Hier stimmt das Klischee aber einmal. Kein Flaschenverbot der Welt wird daran etwas ändern.
Frauen und Kinder (nicht mehr) zuerst
Nach neuster Grundsatzrechtsprechung aus Karlsruhe und Straßburg sind die Rechte getrennt lebender Väter deutlich gestärkt. Ein Kölner Musiker hat neun Jahre lang gefochten und darf sich nun zumindest formal gleichberechtigt mit der Mutter fühlen. Nach jahrelangem Rechtsstreit sind die Fronten jetzt natürlich verhärtet und die Frau, bei der das gemeinsame Mädchen lebt, arbeitet mit findigen Tricks, um das Umgangsrecht des Ex-Lovers und Jetzt-Klägers zu sabotieren.
Noch vor kurzem aber haben die Familienrechtssenate entsprechende Väterklagen gar nicht erst zugelassen zur Hauptverhandlung; so chancenlos waren sie im Vorneherein gegen kooperationsunwillige Mütter aufgrund der standardisierten, höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Argumentiert wurde damals und auch nach dem Paradigmenwechsel heute mit dem vermeintlichen Kindswohl als allein relevanter Maßstab für jegliche Fürsorgeentscheidung. Ich habe das nie verstanden. Einmal, weil das Wohl eines Kindes gar nicht zu trennen ist von dem seines Umfelds. Dem Kind ist nicht "wohl", wenn aufgrund einseitiger Fürsorgeregelungen das Umfeld leidet. Zudem gibt es so viele Einzelfälle wie familiäre Konstellationen. Und dann: Warum sollte eine Gesellschaft weniger am Wohlergehen ihrer erwachsenen, männlichen Mitglieder interessiert sein, die nach einem Kindsverlust objektiv und schwer zu leiden haben? Das ist gesellschaftsschädliches, reaktionäres "Frauen- und- Kinder- zuerst"- Denken. Die wackelige Basis der zugrunde liegenden Weltanschauung wird ja jetzt auch offenbar: Nachdem das Kindswohl jahrelang nichts zu tun hatte mit Väterinteressen nun die radikale Kehrtwende, die peinliche Bankrotterklärung einer ungerechten, ideologischen Rechtsprechung.
jagothello am 06. November 10
|
Permalink
|
0 Kommentare
|
kommentieren
Warum Pipi Langstrumpf kein Gras raucht (und auch sonst nichts)
"Resilienz" nennt man es, wenn Menschen seelisch widerstandsfähig sind. Eine erstaunliche Eigenschaft ist das. Sie bewirkt Frustrationstoleranz und impft Kinder gegen Suchtverhalten jeglicher Art, zu der sicherlich auch ungezügeltes Fressen gehört- von Weingummi, Kinder-Pingui und vor allem diesen so unmittelbar Freude spendenden und deshalb so teuflischen Mac-Doof-Produkten. Nicht einmal elementare Kulturtechniken muss beherrschen, wer ins "Restaurant" geht und sich das reinzieht. Eine gesunde Hand reicht völlig und so erwirbt der kindliche Kunde neben dem sinnlichen Erlebnis (und das ist es!) auch noch eine sympathische, weil wenig anspruchsvolle Lebensart. Mit der er sich identifiziert. Die er LERNT. Mac-Donald-Strategen in die Lehrerausbildungsseminare! (Aber das ist nun endgültig etwas ganz anderes).
Neben Leberschäden, Diabetes und Adipositas versprechen, nein garantieren Hamburger, Mc-Chicken, crossed-bacon-wrap & co mentale Bedürfnisbefriedigung via eines unverzüglich ansteigenden Blutzuckerspiegels und entsprechender Serotonin-Ausschüttung. Ein einzelner Royal TS deckt ja schon, wie man weiß, den täglichen Kalorienbedarf eines 15-Jährigen und da nimmt es beim fortgesetzten Sprießen der Filialen an allen möglichen und unmöglichen Orten kein Wunder, dass die Menschen verfetten. Lust statt Frust. 6% jener Alterskohorte gelten bereits als adipös, mindestens 21% als übergewichtig.
Von denen waren gestern geschätzte 90% im Erlebnisbad meines Vertrauens, das ich zwecks Kinderbespaßung hin und wieder aufsuche. Schon Vierjährige watscheln mit Hängebrüsten und Fettröllchen am Bauch auf die Rutsche. Immerhin: Sie sind selten tätowiert und die steile Wendeltreppe nehmen sie noch recht souverän. Das Schwimmerbecken 10 m weiter bleibt selbstredend leer, man ist ja zum Vergnügen hier. Die Kinderlein könnten sicherlich die ein oder andere Strategie gebrauchen, die sie wappnet gegen die Anfechtungen des Trieb- Es gegen das so schwach geformte, hungrige Selbst-Ich. Pipi-Langstrumpf-Lektüre zum Beispiel. Na ja. Familienausflüge ins Funbad sind auch nicht zu verachten- ich will nicht ungerecht sein.
Die "Süddeutsche" widmet sich jedenfalls aktuell dem Thema. "Bindung" heiße das Zauberwort. Wer "gebunden" sei als Kind, bilde Resilienz aus, die für das Leben bzw. gegen seine Fährnisse schütze. Eine Studie aus Hawaii habe das gezeigt. Auch hier wieder sind Pipi-Langstrumpf-Leser klar im Vorteil: Sie müssen sich für solche Erkenntnisse nicht durch quälende Psychologen-Prosa quälen; können statt dessen essen gehen oder schwimmen.
Alle Kreter sind Lügner...
soll der Kreter Epimendis behauptet haben, womit er sich natürlich selbst dementierte, denn die Aussage stimmte ja nur dann, wenn er selbst die Ausnahme gewesen wäre. Dann aber wären nicht "alle" Kreter Lügner gewesen.
Ich finde, ich denke, ich glaube, dass der antike Grieche durchaus kein Paradoxling und Antilogiker war, sondern auf ein schon vor Jahrtausenden virulentes Phänomen aufmerksam machen wollte- illustriert meisterhaft von Escher:
M.C. Escher: Drawing hands (1948)
Solche Selbstreferenz ist es, der jedenfalls auch ich heutiger auf Schritt und Tritt begegne. Die Menschen nehmen die Dinge des Lebens offenbar nicht anders wahr, als in Abhängigkeit zu ihrem eigenen Denken, Fühlen, Sein. Meinungsstark und selbstsicher werden allerhand Ansichten kundgetan zu den Aspekten des Lebens: Sonnenuntergänge, Integration, Stuttgart 21, PISA, Mac oder PC? Bezug und Rückbezug im ewigen Kreislauf. Gibt es eigentlich noch Menschen mit dem Mut zu keiner Meinung? Menschen, die nicht ewig "finden", "glauben" und "denken"? Vielleicht mal einen Politiker, einen Funktionär oder einen Kulturschaffenden im Plapper-Salon bei Will/Illner/Beckmann, der von seiner eigenen bourgeoisen Biografie abzusehen vermag? Möglichst radikal? Nirgends- Epimendis ist ja lang nicht mehr. Und auch ich ertappe mich dabei, in die eigene Falle getappt zu sein, denn das ist ja das Problem: Zu behaupten, es besser anders machen zu sollen ohne es dann anders zu machen!
jagothello am 27. Oktober 10
|
Permalink
|
0 Kommentare
|
kommentieren
Denken können
Im Wintersemester 1992/1993 zwang mich der Fachbereichsleiter "Pädagogische Psychologie" der philosophischen Fakultät der Universität Köln zu zweierlei (mein Examen stand an!): Zum einen sollte ich herausfinden, wie kreative Menschen kreativ werden und kreativ wurden, sofern sie es denn aktuell wären. Zum anderen war ein Intelligenztest abzulegen und zwar ein solcher, den besagter Professor just ins Konkurrenzrennen geworfen hatte gegen all die Elaborate aus den USA und jetzt also "evaluieren", sprich: testen wollte.
Anders als bei Gage, Guilford und den anderen Kognitionspäpsten aus Übersee sollte dieser Test die kulturabhängigen Parameter hinwegfegen: "Und was, Mr. Guilford, wenn Sie im Amazonasbecken testen, wo die Menschen mit rechtwinkligen Vertikalen und Horizontalen nichts anfangen können? Wo es andere syntaktische und semantische Konventionen gibt?" So der plausible Einwand gegen die Verfahren, auf deren Grundlage Behörden und Betriebe allerorten Sozialchancen verteilten und außerdem: So ein C-4- Professor musste natürlich schon ab und an einmal das Rad neu erfinden.
Ersteres, also die Forschung, missriet mir dann jedenfalls so ziemlich und letzteres, also der Test, erst recht- zu ihm gleich.
Aufgrund meiner studienbegleitenden, mit vielen Hoffnungen und Wünschen verknüpften Tätigkeit bei einer großen hiesigen Fernsehanstalt schien es mir sinnig und stimmig, all die Producer, Art Directors, Layouter, Formatentwickler und Entscheider- also all die professionell Kreativen zu befragen: Wer oder was gibt dir all die brillanten Ideen ein? Wie kommst du auf diese grandiose Nuance der Farbgestaltung in diesem Logo, in jenem Piktogramm? Aus welchen Quellen speist sich deine Inspiration, die dir Festanstellung, 14. Jahresgehalt und Überschussbeteiligung sichert?
Wohl ganz falsch gefragt, denn rasch stellte sich heraus: Die Menschen außerhalb des Lehrbetriebs scheuen die Metaebene und die kreativen unter ihnen sowieso. Man hat wichtigeres zu tun. Rücklaufquote der Fragebögen: Mau! Und je höher der senderinterne Rang, desto mauer. Gelernt habe ich bei dieser Gelegenheit immerhin, wie gnadenlos steil hierarchisiert ein privater Fernsehsender strukturiert ist. Es war mir so gut wie unmöglich, zum Posteingangskorb federführender Redakteure & Moderatoren vorzudringen (naiv genug, hier Kreativität zu erwarten; heute weiß ich das ja auch!). Mit guten Tipps aus der Kantine gelang das dann zwar noch aber wahrscheinlich wanderte der so sorgsam ausgearbeitete und liebevoll erstellte Fragebogen ("von weeeem ist das denn? Hä? Geht`s noch?") noch zügiger im Mülleimer als die täglichen Bewerbungen um einen Praktikumsplatz.
Subalterne aber gibt es glücklicherweise überall und so konnte Einiges dann doch noch ausgewertet werden. Die Ergebnisse waren, na ja- irgendwie enttäuschend. Kreativität schien viel zu tun zu haben mit Erfahrung und bestimmten Denkmustern a lá: aktuelles TV-Layout ist horizontal ausgerichtet; Signalfarbe für den Informationsbereich ist blau oder orange oder am besten eine Kombination aus beidem usw. usf. Ich vorurteilsbehafteter Pseudowissenschaftler hatte den Eindruck gewonnen, dass da wenig Inspiration im Spiel war, wenig Leidenschaft und Spontanität. Die Jagd auf den göttlichen Funken versandete im intellektuellen Nichts des Alltagsgeschäfts der Unterhaltungsmaschinerie. Bestenfalls wurden da offenbar Studieninhalte exekutiert.
Mein Professor hatte das vorausgesehen und war dennoch recht glücklich über das Projekt. Endlich einmal keine langweilige Text-Recherchearbeit mit den immer gleichen Ergebnissen. Um den Test kam ich dennoch nicht herum- gerade jetzt nicht. Seine zugrunde liegende Maxime: Intelligenz ist die Fähigkeit zur kreativen Problemlösung. Diese meine Fähigkeit musste ich nun am PC (damals galt das noch als quasi revolutionär) unter Beweis stellen und zwar mithilfe einer Art des Tetris-Spiels auf Niveau 1. Niveau 1 jedenfalls dann, wenn ich als Maßstab mein Ipod-App "Tetris" nehme- na ja, das ist von 2010- vielleicht schicke ich dem guten Emeritus mal einen Link.
Tetris jedenfalls konnte ich noch nie so gut und ich habe dem Professor gegenüber auch darauf verzichtet, anzumerken, dass Problemlösefähigkeit solcherart durchaus abhängt von kultureller Überlieferung, von Training und Gewohnheit und dass der zugrunde liegende Begriff von Kreativität recht eindimensional daherkommt. Von der gänzlich ungewohnten Computerumgebung mal ganz zu schweigen. Mein Ergebnis war so oder so unterirdisch ("Sie müssen wissen: Das ist problematisch!") und ich bin bei aller Testskepsis doch froh, dass es auch 20 Jahre danach noch Testverfahren gibt, die nicht derart einseitig Tischler, bildende Künstler oder Architekten bevorteilen und Amazonasindianer wie mich betröppelt im Regen stehen lassen! Wenn sich aber intelligentes Verhalten nun dennoch nur im gedanklichen Manipulieren von dreidimensionalen Objekten äußern sollte, muss sich wenigstens kein Mensch mehr wundern über all das irrationale Tun, das uns Tag für Tag an den Rand des Abgrunds bringt. Unintelligent jedenfalls müsste es dann noch lang nicht sein!
jagothello am 16. Oktober 10
|
Permalink
|
0 Kommentare
|
kommentieren
Nobel Laureates only
Parkplatzprobleme müssen doch wirklich nicht sein...
Mein persönliches Stuttgart 21
Erkennen an ihren Taten sollst du sie... Das müssen keine spektakulären sein, wie ein unscheinbares Beispiel mitten aus der Republik zeigt. Ich wohne in einer sog. Verkehrsberuhigten Zone, man sagt "Spielstraße" und meint einen Bereich, in dem Fußgänger und Autofahrer gleichberechtigt sind. Kinder genießen Vorrechte- daher gibt es hier viele. Unmittelbar vor meiner Haustür ist ein Dreijähriger totgefahren worden. Von einem Eiswagen, der hier Geschäfte machen wollte. Für den Fahrer war er kaum zu sehen, weil er auf der nur gut 4m schmalen Fahrbahn hinter einem widerrechtlich geparkten Auto hervor lief; glücklich über sein gerade erworbenes Eis, der Mutter entgegen. Es wären nur noch 2 m gewesen...
In der Nachbarschaft baut ein Investor einen alten Gutshof um. Ein millionenschweres Investment. Die Parkplätze sollen über besagte Straße angefahren werden. Mit Autos, die knapp so breit sind wie die Fahrbahn. Wer ausweichen möchte, steht im Vorgarten. Und ausweichen muss man dauernd; jetzt schon, also bevor die Wohnungen bewohnt werden. Denn kaum einer, auch viele Anwohner nicht, hält sich an die vorgeschriebene Schrittgeschwindigkeit, die das regionale OLG mit 3-7 km/h genauer definiert. Weitere Unfälle sind also vorprogrammiert und so tobt seit 2 Jahren ein nachbarschaftlicher Kampf gegen die genehmigenden städtischen Behörden. Geführt wird er über diverse Ämter, den Baudezernenten, das Verwaltungsgericht, das Bürgermeisterbüro der Millionenstadt, das Bezirksparlament, den Investor, die Presse, das Fernsehen. Auch das war tatsächlich vor Ort, denn was sich abspielt ist nicht nur der Klassiker David gegen Goliath, sondern ein Lehrstück in Sachen "Millioneninvestitionen gehen immer über Bürgerinteressen".
Die Klage richtet sich nicht gegen den Umbau des Hofs. Die Klage richtet sich gegen die Durchfahrtsregelung, denn es gäbe Alternativen- die natürlich teurer wären.
Die Befürworter, also vor allem der Investor und die Stadt, verweisen, wie in Stuttgart, auf ein ordnungsgemäßes Planfeststellungsverfahren. Es hätte uns, auch so wird ja in Stuttgart argumentiert, freigestanden, die Pläne, die 3 Jahre vor Errichtung der Straße samt zugehörigen (unseren) Häusern 3 Tage lang in einem Vorraum des Bürgermeisterbüros zur Ansicht ausgelegen hätten, anzufechten. Nun sei da nichts mehr zu machen. Juristisch ist gegen solchen Zynismus hier wie dort nicht anzukommen und dass tägliche Gefahren dadurch entstehen, dass Kleinkinder sich einen Verkehrsbereich mit rasenden 1,5 Tonnern teilen, "ist nun mal so". Da kann der Investor nichts machen.
Auch, dass die Straße nicht so breit ist wie in den genehmigten Plänen ist jur. nicht anfechtbar und zwar mit einer Begründung, die auch in Stuttgart eine Rolle spielen dürfte: Der Bürger hat keine Möglichkeit, öffentlich-rechtliche Verwaltungsakte anzugreifen, es sei denn, und das muss er eben nachweisen (kann es aber meist nicht), dass er selbst und unmittelbar in seinen persönlichen Rechten beeinträchtigt wird. In Stuttgart wird also ein Anwohner (wer wohnt schon im Schlosspark?!) nachweisen müssen, dass das Fällen von Parkbäumen seine individuelle Rechte verletzt; ich musste nachweisen, dass die Verkehrsmehrbelastung bsp. zu unzumutbaren Ruhestörungen führt. Von vorne herein ein chancenloser Ansatz. Dass Straßenbreiten nicht eingehalten werden, geht den beunruhigten Anwohner nichts an!
Hätte man in oder unter dem alten Gemäuer eine römische Mauer oder ein brütendes Bussardpärchen- oder, noch besser, eine Fledermausfamilie gefunden, hätte das gesamte Projekt auf der Kippe gestanden, jedenfalls vorerst. So war es ja auch in Stuttgart, wo eine selten vorkommende Käferart in den Parkbäumen nistete. Da hat man freilich rasch Fakten geschaffen.
Nun gibt es aber neben dem Juristischen eine schwieriger zu fassende Dimension der Angelegenheit. Menschen fühlen sich subjektiv durch neu entstandene Sachverhaltslagen in ihren Bedürfnissen bedroht, nicht ernst genommen, übergangen, übertölpelt- gefährdet.
Pläne, in Stuttgart wie in meinem kleinen Beispiel, haben eine geringe Halbwertzeit angesichts der Komplexität, die sie vorab abbilden sollen. Von den emotionalen Qualen einer Familie, die ihr Kind bereits in diesem Kontext verloren hat, einmal ganz zu schweigen. Da stellt sich eine weitaus grundsätzlichere Frage als die nach geltendem Verwaltungsrecht: Wie gehen wir mit Menschen um? Nehmen wir sie wahr in ihren Ängsten und Befürchtungen oder verschreiben wir uns reinen Nützlichkeitsüberlegungen und bestmöglicher ökonomischer Verwertbarkeit? Diese Fragen stellen sich natürlich auch in anderen Zusammenhängen; man denke nur an die unseligen Produktionsverlagerungen ganzer Werke in osteuropäische oder asiatische Billiglohnenklaven. Letztendlich ist es die Frage nach den Vorstellungen darüber, was eine lebenswerte Gesellschaft ausmacht. Es kann durchaus Stuttgart 21 oder der Parkplatz vor der Tür samt Zufahrt hinzugehören- da möchte ich nicht falsch verstanden werden. Das seelenlose, einfallslose, kompromisslose, emotionslose Durchpeitschen gegen verbriefte Interesse einer nennenswerte Anzahl von Menschen aber ganz sicher nicht!
jagothello am 09. Oktober 10
|
Permalink
|
0 Kommentare
|
kommentieren
Spanisch spreche ich mit Gott...
Italienisch mit den Frauen, Französisch mit den Männern und Deutsch mit meinem Pferd, vermeinte Karl V, wenn die Überlieferung stimmt, woran ich bei solch netten Pointen ja gerne glaube. Ich weiß nicht recht, ob der Großherrscher etwas sagen wollte über Gott, sich selbst, seine Pferde, Frauen oder Männer oder doch über die vier Weltsprachen seiner Epoche. Wahrscheinlich über all das. Irgendwie aber finde ich, dass sich das ungerecht anhört. Man müsste einfach mehr wissen. Zum Beispiel, welche Beziehung Karl V zu seinem Pferd hatte.
jagothello am 08. Oktober 10
|
Permalink
|
0 Kommentare
|
kommentieren
Intelligent? Nicht wirklich!
Intelligenz kann man messen. Oder besser: Man kann das messen, was man für Intelligenz hält. Oder noch besser: Intelligenz ist das Verhalten, das man messen kann. Mit dem Messen ist es aber so eine Sache. Man darf sich die Intelligenz ja nicht vorstellen als ein Fluidum, eine Flüssigkeit in einer 1-Liter-Flasche; bei mir zur Hälfte gefüllt, bei meiner Frau wohl etwas mehr usw. Was man misst ist lediglich eine Relation, ein Verhältnis. Und die einzig mögliche, durchaus unbefriedigende Auskunft, die man nach solch einer Messung bekommen kann, geht ungefähr so: Du hast einen Intelligenzquotienten von 100. Die eine Hälfte der gemessenen Population ist damit intelligenter als du. die andere weniger intelligent. Wenn ebendiese Population nur aus Nobelpreisträgern besteht, führt das zu lustigen Ergebnissen aber ich gebe zu, dass man das mit statistischen Werkzeugen in den Griff bekommt.
Übertragen aber auf die Behauptung Sarrazins, Intelligenz sei zu 80% genetisch festegelegt (und nicht etwa zu 78% oder 84) bedeutet das: 80% eines jeglichen Verhaltens, zu dem Intelligenz benötigt wird (Schuhe binden, Gleichungen lösen, tanzen usw.usf.), wären korrelliert mit Erbinformationen. Dies müsste natürlich erst einmal experimentell nachgewiesen werden, indem einer Gruppe von Versuchskaninchen 20% jener Umweltanreize vorenthalten würden, die entsprechend der Gegenthese, derzufolge Intelligenz im Sozialisationsprozess entwickelt wird, geeignet sind, intelligenzfördernd zu wirken. Dazu gehören Kindergartenbesuch, Schule, vorlesen usw. Wenn diese Versuchsgruppe nach diesem durch und durch unethischen Programm einen IQ aufwiese, der eben exakt um jene 20% geringer wäre als der der Vergleichsgruppe ohne Bildungsentzug, wäre der Beweis geführt. Sicher unethisch solch ein setting, jedoch: Genau dies passiert! Der Unterschicht, auf deren selbstverständlich niedrigeren IQ sich Leute wie Sarrazin beziehen, werden tagtäglich und schon seit Jahren ebendiese 20% bildungs- und intelligenzfördernden Maßnahmen versagt und zwar von kleinauf. Wenn der IQ im Vergleich zur Oberschicht sogar noch geringer liegt, ist das nichts weniger als der Beleg dafür, dass Bildungschancen und Bildungsangebote für die Ober- und Unterschicht in einem noch krasseren Missverhältnis stehen.
Ein schönes Beispiel dafür, wie man Fakten tendenziös in einem vorab schon feststehenden, diabolischen Sinne (mis)deuten kann.
jagothello am 18. September 10
|
Permalink
|
0 Kommentare
|
kommentieren