Guck nach draußen
Wie entwickelt sich eigentlich der Lebensstandard von uns Deutschen? Man hört ja nichts wirklich Erfreuliches und rein volkswirtschaftlich ist von Inflation die Rede, von Arbeitslosigkeit und Verlust aller möglichen sozialen Errungenschaften wie 13. Monatsgehalt, freie Kindergartenplätze oder Zuzahlung bei Zahnprothesen und Brillen. Stimmt ja auch: 1987 noch bezahlte man für eine einigermaßen komfortable und nicht gar zu hässliche 2-Zimmer-Wohnung in der Kölner Südstadt (laut, natürlich) gerne 770,- DM kalt. Heute sind es 850,-€, was auf eine jährliche Inflationsrate von ungefähr 5 % weist. Weitere Beispiele sind Legion: Preise für Brötchen, Currywurst mit Pommes rot-weiß, Autos, IKEA-Sofas, Oleander, Füllfederhalter, Medikamente.
Andererseits: Unglaublich, welch ein materieller Komfort im Unterschied zu den 70er, 80er und auch 90er-Jahren heutzutage Standard ist. Beispiel Urlaub: Die A1, A2, A7, A20 bersten nur so vor Premium-Fahrzeugen auf dem Weg in oft mehr, selten weniger exklusive Nord- und Ostsee-Ferienquartiere. Auf dem Dach der gesammelte Hausrat, am Heck das Treckingräder-Arsenal, im Fond IPod-Beschallung, mobile Spielekonsolen, DVD-Player ("wie viele Filme hast du auf deinem Stick?") und TV-Empfang. Raststätten-Klo, Bockwurst & Kartoffelsalat für jeden, 2 Kaffee, 2 Cola 49,90€. Gleich mal tanken: 91,72€.
Vor Ort dann Surfkurse, allabendliche 80,-€-Rechnungen in der Gastronomie, Dinowelten, 1450-Meter-Eventrutschen, Spaßbäder, Bunjee, Wellness, Schiffrundfahrten, Themenparks. Kinderrabatte? Ja, klar, aber nicht im Juli und August! Alles wie zu Hause, eigentlich. Und auch ganz nett soweit, denn das hat ja alles mit lebensbejahendem Fortschritt zu tun. Mit Grauen denke ich zurück an Sommer-Marathons im BMW 1600 mit 2 Geschwistern links und rechts und 2 rauchenden Eltern vorne bis ins südliche Spanien so mehr oder weniger nonstop inkl. Serpentinen-Kurs über die Pyrenäen ("Wir halten in 2 Stunden an, dann kriegst du was zu trinken. Guck solange nach draußen!").
Ich frage mich aber in meiner spießigen Bedenkenträgerei dann doch das eine oder andere mal: Wer bezahlt das eigentlich alles? Wovon? Wenn das Familiendurchschnittsgehalt so etwa bei 43.000,-€ brutto liegt und das dann netto inkl. Kindergeld vielleicht auf 2.400,- € im Monat hinausläuft, muss da der Dispokredit schon recht großzügig bemessen sein. Und natürlich der Optimismus, das alles irgendwann, wenn schon nicht gleich, zu stemmen. Denn es geht ja weiter. Nicht nur der Urlaub, die U-Technik und die 450,-€-Leasingrate für den V70 oder den Q7 wollen bezahlt sein. Auch 5 oder 6 Versicherungen, Schulbücher, die Küche, Immobilienkredite, Pay TV, H&M-online-Bestellungen, Praxisgebühren, Aldi, Weihnachtsgeschenke, Reparaturen am Dach, Eintrittsgelder, Brackets, Heizkosten und und und. Natürlich auch die Lebenshaltungskosten für bedürftige Menschen, für "Transferempfänger", denen gegenüber die Banken nicht so großzügig sind, aber von Zwangsabgaben will ich hier gar nicht reden.
jagothello am 23. August 10
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Ding, Dinge, Dinger
Das Ding lauert überall: Die Bayern gewinnen es. Manchmal auch Schalke. Mein Ding sind beide nicht so recht. Im Fußball tummeln sie sich überhaupt: die Dinger: "Was für ein Ding." Es ist schwer zu halten, manchmal auch toll, respektive: "klasse". Die "Klasse" ist kongenialer Partner des Dings. Nichts ist super, prima oder spitze; alles ist klasse- vielleicht mal was "schön"; das aber selten. Neulich gewann Marc Cavendish das Ding im Spurt und zwar zwischen Salies-de-Bearn und Bordeaux. Insgesamt gewann das Ding natürlich Contador; sozusagen das Gesamtding. Bei der Leichtathletik-EM neulich in Barcelona (oder fand das Ding nur im Fernsehen statt?) wimmelte es nur so von Dingern: 100m-, 200m-, 5000m- Dinger wurden gewonnen und verloren. Stabhochsprungdinger, Hammerdinger, Speerwurfdinger, Weitsprungdinger.
Ich schwöre: In NRW verloren das Ding die SPD und die CDU gleichermaßen!
Tatort
Der deutsche Krimi liegt darnieder. Er darbt. Er ist langweilig, mau, gewollt, gekünstelt- einfach schwach. Beispiel: Tatort- das Flagschiff der ARD. Gepresst in das ewig selbe 90 Minuten- Schema muss diese Produktion immer wieder herhalten, wenn es um die Rechtfertigung der Zwangsgebühren geht. Man hat ja so viel Qualität!
Hat man natürlich nicht. Das Hauptproblem und wohl das große Missverständnis, wegen dem sich Menschen wie ich enttäuscht abwenden: Man missbraucht ein Label, produziert eigentlich gar keine Krimis, sondern mal kleine Kammerspiele, Beziehungs- und Sozialdramen (das ewig ganz, ganz heiße Eisen aus Köln nervt gewaltig!) oder, immer öfter, Komödien. So wie neulich mit Kommissarin "Charlotte Lindholm". Schon der Name dieser Figur lässt böses ahnen- heißen so nicht immer die Partnerinnen von Michael Mendl in den Degeto- Freitagabend-Schmonzetten? Jedenfalls so ähnlich.
Statt eines stringent erzählten Krimis, also einer mit Spannung aufgeladenen, handlungsreichen Geschichte, nach Möglichkeit einer einfachen Spannungskurve folgend (ist doch nicht zu viel verlangt- müssen schon 6-Klässler beherrschen) bekommt man phantasielose Konzeptkunst nach den immer gleichen Mustern vorgesetzt. Spannung sollen diese Filme wohl aufbauen, indem spannungsreiche Geschichten (was man so dafür hält!) um die Beziehungen wahlweise zwischen Kommissar 1 und K. 2., ihren Männern (in Charlotte Lindholms Fall ist es der "beste Freund"; ein verliebter, depperter Volltrottel), Töchtern usw. entfaltet werden. Das ist dann wieder die berühmte "Degetosierung" der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten. Aber: Dieses Erzählmuster funktioniert nicht. Jedenfalls nicht, wenn es einen ganzen Film tragen soll. Da müssten schon gute Storys her und v.a. der Mut, sie auch zu erzählen.
Die schönste Musik der Welt
Die schönste Musik der Welt: das sind die sechs Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach. Behauptet jedenfalls der Berliner Cellist Alban Gerhardt im Interview mit "tip Berlin" und zwar, geschickt, geschickt, just vor seinem Konzert im "Radialsystem" zu Berlin. Die "Bibel des Cello-Spiels" seien diese höchst abstrakten Stücke. Das mag sicherlich so sein- der Cello-Virtuose verweist auf die enorme technische Komplexität dieser Musik. Ich spiele weder Cello noch irgendein anderes Instrument- leider. Ich versinke aber beim Besuch in der Bach`schen Welt regelmäßig in vielfältige Betrachtungen und, durchaus, in einen Zustand entspannter Zufriedenheit. Da ist der Kunst und den Künstlern gedankt. Das muss man ja so erstmal herstellen!
Bemerkenswert an dem Gespräch mit Alban Gerhardt ist aber etwas ganz anderes. Er ist nämlich der felsenfesten Überzeugung, dass man doch bitteschön über die Musik "nicht schreiben kann, weil Musik da anfängt, wo Sprache aufhört. Wenn man das, was man bei Musik empfindet, in Worte fasst, verliert es (sic) schon sehr viel." Vielleicht hatte Alban Gerhardt einfach keine große Lust, die immer selben Phrasen über seine Passion zum besten zu geben, vielleicht steckt aber doch mehr dahinter. Mich hat das jedenfalls an einige Stunden Lektüre erinnert, die mir kürzlich, einigen Links des Blogs von Jean Stubenzweig folgend, höchst anregend die Zeit vertrieben. Was nicht so alles theoretisiert wird zur Musik!
Erinnert wurde ich aber auch an unseren guten, alten Markus Schwering, Kulturredakteur des Kölner-Stadt-Anzeigers seit langen Jahren, der ebda. mehrmals wöchentlich Rezensionen, Kritiken und Gedanken seine Besuche in den örtlichen Musentempeln betreffend platziert. Ein klitzekleines Beispiel zu einer Chopin-Einspielung Rafal Blechacz`:
. . . [er trifft] den archimedischen Punkt, jene Mitte, die keine noch so raffinierte Brillanz "einfach so" erreicht. Man höre sich nur den Einstieg in den langsamen Satz des zweiten Konzerts an: Das ist lyrisch intensiv, hat großen Atem -- und jenes Equilibrium von schlanker, ritterlicher Eleganz und Melancholie, die Chopins geistiges Zentrum ausmacht. Es stellt sich der Eindruck einer zweiten Natürlichkeit und Herzlichkeit ein --hell, frisch, beschwingt in den Ecksätzen --, die nicht aufgeputzt oder forciert zergrübelt und auch nicht durch übermäßiges Pedal in die titanische Ecke befördert wird. Und wie Blechacz in der Coda des f-Moll-Konzerts den Terzruf des Horns aufnimmt und konsequent durchführt -- das zeigt, wie viel Gestaltungsenergie er jenseits des reinen Spiels mobilisiert.
Ob (andernorts) das Schreiben und Sprechen über die Musik Sinn macht: Ich weiß es nicht sicher. Derart dadaistische Geschwätzigkeit aber möchte ich in meiner Tageszeitung nicht mehr missen. Ist ja gewissermaßen auch eine Kunstform. Und was die schönste Musik nun wirklich ist, kann man ja jeden Tag auf`s Neue entdecken.
Gerold Becker
Über den Tod hinaus langt der Spott, die ätzende Abrechnung, die wütende Replik auf den Gestrauchelten. Sicher: da gibt es die Verwerflichkeit der Tat, das Monströse des tiefen Abgrunds. Es gibt aber auch den niedrigen Beweggrund des Chronisten, denn wenig nur hassen (oder lieben) wir mehr als den allzu klaffenden Widerspruch zwischen moralischer Attitüde und ungezügelter, hedonistischer Triebhaftigkeit. Den Fall des Lichtengels: der ist es, den wir sehen wollen. Wir? Ja, so sind wir Deutschen! So bin ich!
Gerold Becker, kürzlich verstorbener, ehemaliger Leiter des durchaus elitären, jedenfalls höchst erfolgreichen pädagogischen Reformprojekts "Odenwaldschule" und Missbraucher vieler der ihm anvertrauten Kinder, ließ sich zum Nutzen kooperativer Lernformen im Unterricht anno 1992 so vernehmen:
"Es gibt (...) bestimmte, elementare Erfahrungen, die ein Mensch gemacht haben muß, um als Sechsjähriger oder als Sechzehnjähriger für wirkliches, das heißt verstehendes und die Person veränderndes Lernen in einem schulischen Kontext überhaupt offen zu sein."
Angesichts der schweren Vorwürfe gegen Becker und seiner Eingeständnisse im o.b. Sinne liest sich das natürlich in ganz anderem Lichte, als es zunächst aufgefasst wurde. Auf "bestimmte, elementare Erfahrungen" jedenfalls hätten die Opfer Beckers, vornehmlich Jungen, sicherlich gerne verzichtet.
Soweit das Apercuhafte. Darüber hinaus stellt sich natürlich die Frage, was eigentlich übrig bleibt vom pädagogisch- intellektuellem Vermächtnis Beckers angesichts der ethischen (Selbst-) Demontage. Die Pädagogik ist ja in den Augen vieler sowieso eine verdächtige, reichlich vage Disziplin, deren normativen Setzungen einigermaßen willkürlich daherzukommen scheinen. Wie sollen die aber nun noch Bestand haben können, wenn schon ihre Setzer sich als derart unzuverlässig und angreifbar zeigen? Gerold Becker hat auch seinem Metier, seiner "Fakultät" schweren Schaden zugefügt.
jagothello am 30. Juli 10
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Love-Parade im falschen Revier
Mal abgesehen von dem katastrophalen Ausgang der Love-Parade in DU und der Frage nach Schuld & Verantwortung: Warum eigentlich verspricht sich eine Stadt mittlerer Regionalbedeutung einen Status- und Imagegewinn durch eine derart exorbitante Großveranstaltung? Auf welche Nachfrage wird da eigentlich reagiert? In meiner ganz persönlichen Wahrnehmung der Stadt bzw. meiner Vorstellung von ihr (ich war noch nie dort) ändert sich jedenfalls wenig, wenn ich weiß: "Wow! Hier war L.P."
Nein, nein. Würde es nicht viel mehr Sinn machen, vielleicht kleinere und weniger spektakuläre, aber dafür nachhaltigere Angebote und Traditionen zu entwickeln, die dann auch das Eventjahr 2010 überleben? Die vielfach abgehängte, deklassierte oder einfach nur gelangweilte Jugend im Ruhrgebiet hätte da sicherlich mehr davon. Denkbar wären u.a. Musik- Tanz- Literaturfestivals, Workshops, Ausstellungen, Schreib- u. Schauspielwerkstätten. Eine solche Jugend- Kulturpolitik zu entwickeln- das wäre doch mal was anlässlich des Kulturjahres 2010 (was ist das überhaupt?). Das würde natürlich voraussetzen, dass sich einmal Verantwortliche mit Visionen, Ideen und echtem Engagement fänden. Vom McFit-Chef kann man das nicht erwarten, die Verwaltungsspitze einer Stadt ist nicht zuständig und der politischen Spitze fehlt offenbar die kreative Gestaltungskraft. Insofern ist Duisburg überall- man soll sich ja nichts einbilden.
jagothello am 28. Juli 10
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Sprache & Finanzkrise
Was ist ein Produkt? Im alltäglichen Sprachgebrauch vor allem all das, was in einem technisch-wirtschaftlichen Herstellungsprozess geschaffen, materialisiert wird und seinen Eigentümer wechselt in der digitalen und analogen Tauschwelt.
Es sprechen allerdings auch die Finanzdienstleister, die Versicherer und Banken von "Produkten", wenn sie ihre Derivate, Anleihen, Investments, Versicherungen, Verbriefungen meinen. Die werden sicherlich auch entwickelt, geschaffen- allerdings virtuell. Sie bestehen nicht physisch, sondern bestenfalls symbolisch als Vertrag, Urkunde usw.
Trotzdem wird der Begriff "Produkt" vom Marketingjargon der Finanzindustrie vereinnahmt, was nicht weiter auffällig wäre, gäbe es da nicht einen sicherlich beabsichtigten, psychologisch wirksamen Mechanismus der Werbung: Indem eine Idee einer Bank, zu Vertragsabschlüssen zu kommen, die darauf angelegt sind, dass Geld fließt, "Produkt" genannt wird, gewinnt sie etwas Ehrenhaftes; sie wird geadelt als etwas materiell Greifbares. Als etwas Wertiges. Als etwas Seriöses. Als etwas, für das es einen konkreten Gegenwert gibt und genau das ist ja offenbar häufig nicht der Fall.
jagothello am 24. Juli 10
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Genießen & Erleben
Weniges nervt so sehr wie Werbung im TV; mich jedenfalls. Sie ist immer irgendwie deplatziert, kommt zur Unzeit. Wenig aber auch ist so aufschlussreich, gibt Auskunft über die Befindlichkeit der Zielgruppe (und wer wäre nicht Zielgruppe?)- ihre Neigungen, Neurosen, Ängste, Klischees, Hoffnungen und Wünsche. Die waren noch bis vor kurzem greifbar; fassbar im Produkt. Der Audi als Chiffre für einen Lebensentwurf, das Waschmittel als Vehikel guter, deutscher Bürgerlichkeit (gibt`s eigentlich TV-Werbung mit Ausländern?). Irgendwie war das logisch und einleuchtend- der Materialismus macht Sinn, wenn es um den Absatz von Produkten geht.
Nun aber hat sich die Verkaufsstrategie geändert. Es geht gar nicht mehr so sehr um das Produkt- um die Zahncreme, die Versicherung, das Fertiggericht. Im Vordergrund stehen die "user", all die Leute wie du und ich, die da erleben und genießen. Ihr Erleben und Genießen zu inszenieren: darum geht es in der TV-Werbung anno 2010. Es blitzen die Zähnchen und die Kinderaugen leuchten (und die der Ehefrau: "erst die Frau verwöhnt, jetzt ist meine Haut dran"- Sexismus geht immer!).
Sicher- immer schon gab es Konsumierer im TV-Spot. Attraktive Konsumierer allerdings mit relativ geringem Identifikationspotential. Wer kann sich schon wie eine ewig junge Tennisprinzessin baden im dolce vita und nachts den Lieblingsitaliener wecken? Wer sieht schon aus wie das D&G Modell und lümmelt den lieben langen Tag im südlichen Gefilde? Eben- und deshalb ist`s ein gestriges Konzept.
Die neuen Werbehelden sind immer noch jung, natürlich. Sie sind aber wesentlich weniger attraktiv, kaum privilegiert, schon gar nicht prominent- Distinktionsmerkmale deutlich zurückgenommen. Sie setzen materielle Standards, das schon (man (!) hat Auto, Haus, Freunde usw.). Neid ist aber ganz fehl am Platze, denn grundsätzlich unterscheidet sich der Nokia-Telefonierer, der Ergo-Versicherte, der Maggi-Köchling nicht mehr vom genormten Mittelstands-Kleinbürger westdeutscher Prägung (den natürlich Werbung auch wieder erst definiert)- abgesehen davon eben, dass er auf das spezifische Produkt zurückgreift. Und das können wir Umworbenen ja auch.
jagothello am 23. Juli 10
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Meta-Blog
Warum eigentlich einen Blog? Lese ich Blogs? Liest jemand diesen Blog? Konkurrenzblogger Stubenzweig, der einen ausgesprochen lesenswerten und ambitionierten Blog führt, meint unter Hinweis auf Peter Bichsel, dass Geschichten nicht unbedingt gelesen, sondern erzählt werden müssen. Das trifft es, glaube ich, ganz gut. Dem Schreiben über und von etwas haftet Reinigung an von all dem Frust, dem Unrat, der unsere Seele belastet. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass doch viele Blogs immer so ein wenig sauertöpfisch daherkommen. Eine pessimistische, therapiebedürftige Gemeinde, zu der ich da zähle. So weit so gut.
Doch warum öffentlich? Es gab Zeiten, da hat man Tagebuch geschrieben und selbiges gut versteckt, vielleicht sogar weggeschlossen. Heute gehen Tausende mit ihren Tagebüchern, die persönlichste literarische Gattung überhaupt, ins Netz. Doch ist das ja nur ein scheinbarer Widerspruch, denn die allermeisten Blogger, auch ich gehöre dazu, schützen ihre wahre Identität. Sie schimmert hier und dort ein wenig durch doch so richtig fassbar wird sie nicht.
Der Blogger unterscheidet sich also durchaus von dem Facebooker, dessen Tun ohne Preisgabe seiner wahren Identität (jedenfalls deren Oberfläche: Name, Wohnort, soziale Vernetzung) sinnlos bliebe. Vielleicht kennzeichnet das zumindest uns Blogger am deutlichsten: Der Wunsch, bei größtmöglicher Anonymität, wahrgenommen, gehört zu werden. Mitzuteilen, ohne zu bereuen!