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Lebt wohl, Mutter & Vater
Ich habe neulich an anderer Stelle vermutet, die Schweizer könnten möglicherweise gewissenhafter mit ihren Traditionen umgehen, als andere Völker; namentlich mit ihren sprachlichen. Das ist offenkundig Unsinn. Die Schweizer nämlich wollen Mutter und Vater abschaffen. Zumindest begrifflich! Elter 1 und Elter 2 sind die traurigen Surrogate, wenn´s kein Streich der Titanic ist. Mal gespannt, wer Elter 1 sein darf...
jagothello am 01. Oktober 10
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Kumpel Bär Moritz
Normalerweise ist Sonntag für mich Arbeitstag. Heute habe ich frei gemacht. Beim Bäcker kaufte ich daher kurz entschlossen die FAS für 3,10€. Viel Geld für eine Zeitung, aber ich habe keinen Cent bereut. Dafür drei Gründe: Auf den Seiten 2 & 3 eine schonungslose Abrechnung mit dem Moloch im Allgemeinen und Istanbul im Besonderen. Ein wohltuendes, angemehm eurozentristisches Plädoyer für Bad Salzufeln als Lebensform, das, angemessen genug, das ewig immer gleiche Politgeschwafel auf hintere Seiten verdrängt. Auch hübsch und allemal eine Meldung wert: Ein britischer Koch habe sein Kind Kumpel Bär Moritz genannt. Ein echtes highlight aber: "Die sogenannte Bundeskanzlerin Angela Merkel...". Unfassbar. Soweit ist`s in der konservativen Presse schon gekommen. Werde nun künftig sonntags öfter freimachen.
jagothello am 26. September 10
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Guckt ja doch keiner
Zu einer meiner frühesten Überzeugungen gehörte, dass da noch irgendjemand ist oder wenigstens irgendetwas, das meine Schritte im Hiernieden begleitet und vielleicht sogar wohlwollend lenkt. Das jemand Obacht hat, wie Ringswandl so hübsch vertont. Lange Zeit hielt ich diesen Gedanken für ausgesprochen originell, für entsprungen aus tiefster Seele- eingegeben als Emotion aus allwissenden Quellen. Nun lese ich bei Rüdiger Safranski, dass dem durchaus nicht so ist. Im Gegenteil. A. Schopenhauer habe schon vor 170 Jahren über die Einfalt der Heerscharen von Menschen nur müde gelächelt, die eben solches für sich reklamierten. Aufklärung kann so niederschmetternd demütigend sein.
jagothello am 23. September 10
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Hitlers Orgasmen
Adolf Hitler streift durch Wien als mittelloser, 19-jähriger Student der Kunstakademie. Er kann seine Miete nicht zahlen und lebt von der Hand in den Mund. Seine spärlichen Einkünfte, die er als Kofferträger im Bahnhof bezieht, steckt er in seine Garderobe. Ohne halbwegs anständig gekleidet zu sein, lässt man ihn nämlich nicht in die Oper, in der er sich seinen geliebten Wagner-Opern hingibt. Am liebsten Lohengrin, Tristan und Isolde sowie Tannhäuser. Rienzi beeindruckt ihn tief wegen der "Reinheit" des Titelhelden. Adolf ist ein Einzelgänger, tief verunsichert, schüchtern, selbstmitleidig, jähzornig. Frauen gegenüber hat er Komplexe. In der Akademie fällt er in Ohnmacht, wenn sich das Nacktmodell entkleidet. Natürlich ist er "Jungfrau".
Durch den jüdischen Arzt seiner mittlerweile verstorbenen Mutter lernt er Sigmund Freud kennen. Der verspricht, ihn zu therapieren.
Im Zuge der Begegnungen mit Freud lernt Hitler wieder, zu träumen, sich seinen Wünschen, Hoffnungen und Ängsten zu öffnen. Zugang, zu seinem emotionalen Erleben zu finden. Er erkennt, dass der Hass und die Wut auf alles und jeden nichts anderes ist als Selbsthass und Wut auf sich selbst. Z.B. darauf, die Mutter nicht vor den Prügelattacken des grausamen Vaters beschützt zu haben.
Freud deutet einen Traum Hitlers als sexuelle Vision. Der spürt er nun nach. Ausgerechnet besagtes Nacktmodell erbarmt sich seiner und zeigt ihm, wie es geht. Die Beziehung wandelt sich dann bald, denn Hitler lernt viel mehr, als sie beibringt: Er lernt, dass gemeinsame Sexualität nicht nur bedeutet, Orgasmen zu bekommen, sondern, Lust zu geben, zu spenden. Sie verliebt sich in ihn.
Hitler gewinnt Raum. Er nutzt ihn, um nachzudenken, statt wie vorher lediglich die Gedanken schweifen zu lassen. Er erkennt, dass er als Maler nichts taugt, dass seine Wagner-Verehrung nichts zu tun hat mit kulturellem oder geistig- intellektuellem Gewinn, sondern nichts anderes ist als sentimentalische Schwärmerei. Er analysiert die Situation glasklar ohne Schuld bei anderen, z.B. den Professoren, die sein Talent nicht würdigen, zu sehen. Hitler entwickelt Alternativen und wird 30 Jahre später kein satanisches Chaos stiften.
Dieses Fallbeispiel der Menschwerdung eines Menschen bildet den ideellen Kern des Romans "Adolf H. Zwei Leben" von Eric-Emmanuel Schmitt. Parallel dazu erzählt Schmitt die Geschichte des zweiten Lebens, des historischen des Adolf H., in dem es keine bestandene Aufnahmeprüfung an der Akademie, keine Begegnung mit der Psychoanalyse, keine Therapie, keine Reflektionen und keinen ehrlichen, echten menschlichen Kontakt gab.
Schmitt schildert in einem Nachwort seine Motive, der seelischen und moralischen Degeneration Hitlers nachzuspüren. Seine zugrunde liegende These ist, dass es eine Wahl gibt, Entscheidungsfreiheit, Ich oder Gegen-Ich zu werden. Es steht uns auch unter ungünstigen Startbedingungen frei, Mensch zu werden und Menschlichkeit auszubilden. Mehr noch: Es ist Pflicht.
Dem Verstehenwollen haftet an, erklären und somit gleichzeitig entschuldigen zu können. Da ist es natürlich viel einfacher, den Verbrecher und seine Verbrechen zu determinieren als Produkt seiner Umwelt, der Geschichte. Schmitt sieht das, hat die Diskussion wohl auch geführt. Sein Hitler bleibt jedenfalls schuldig, weil er sich aktiv von den Bedürfnissen anderer abkapselt; weil er sich aktiv für einen Egozentrismus entscheidet, der dezidiert die Bedürfnisse seiner Mitmenschen vernachlässigt.
In seinem Buch "Der Verlust des Mitgefühls" bestätigt der schweizer Psychoanalytiker Arno Gruen übrigens jede Zeile des Schmitt' schens Gedankenexperimentes. Am Beispiel diverser KZ-Täter werden die Motive von Gewaltexzessen zurückgeführt auf ganz ähnliche Mechanismen wie bei Schmitt beschrieben. Bücher, die in den Amazon-Warenkorb zumindest eines jeden pädagogisch tätigen Menschen gehören.
Nachdenken über Christa W.
Der SPIEGEL interviewt Christa Wolf (Ausgabe 24, S. 134ff). Zwei Fragen bewegen die RedakteurInnen ganz besonders. Zum einen, warum Wolf sich so vage äußert zur Bösartigkeit des untergegangenen DDR- und Stasi-Systems? Sympathisierte sie etwa mehr, als sie zugibt? So scheint es ja auch ihre Stasi- "Täterakte" nahe zu legen. Zum anderen: Warum emigrierte Christa Wolf nicht, wenn sie doch, wie sie vorgibt, so enttäuscht war?
Christa Wolf war und ist eine exponierte Autorin. Wie sollte sie sich wohl äußern, wenn nicht im Rahmen ihrer Prosa? Und das tat sie! Äußerst dezidiert sogar und kein bisschen vage. Auch wenn, was wohl klar sei, die "Autorin nicht identisch mit der (Ich-) Erzählerin ist", lässt es ihre Kassandra jedenfalls an Deutlichkeit nicht fehlen. Sie muss mit ansehen, wie ihre engsten privaten Bindungen zerfallen. Der geliebte Vater verstößt die Lieblingstochter wegen einer abstrakten Idee vom Staatswesen, eingeflüstert vom Stasi-Aliud Eumelos.
Überhaupt: Das Troja Kassandras zerfällt, bevor es auch von außen zerstört wird, von innen. So wie die Bewohner Trojas an den Mythos der schönen Helena glauben und daran, dass ihr "Raub" Kriegsgrund ist (und sich in diesem Zuge von einem spirituellen, friedlichen Agrarvolk zu einem brutalisierten Kriegsheer wandeln), verschrieb sich ja auch die DDR so mancher fixen Idee.
Kassandra geht dann schließlich auch nicht ins Exil, obwohl sie die Möglichkeit hätte, der Verschleppung nach Griechenland und dem sicheren Tod zu entfliehen und eine ganz neue Welt mit dem geliebten Aineas aufzubauen. Sie weiß aber, dass sie nicht ausweichen kann, nicht fliehen- jedenfalls nicht vor den Gesichten, der Zerrissenheit, der Angst, der Scham- ihrer ganz persönlichen Hölle. Nein, das Exil ist keine Lösung. Vor sich selbst kann niemand fliehen, auch nicht ins gelobte Land.
Ich denke, wer Christa Wolfs Beweggründe, ihr Verhältnis zu ihrem Heimatstaat begreifen möchte, muss den Umweg über ihre Bücher gehen.
Übrigens: Im selben SPIEGEL gibt es in ganz anderem Zusammenhang einen Leserbrief, in dem dringend angeraten wird, das heimische Westeuropa nicht stets als modellgebenden Exilort für die ganze Welt zu verkaufen. Das könnte wahrscheinlich auch Christa Wolf sofort unterschreiben.
Frank Schätzings "Limit"
1300 Seiten. Unhandlich im Bett. Eine Handlung, die auch auf 350 Seiten hätte entfaltet werden können. Figuren, denen der Autor auch auf den letzten Seiten selbst noch nicht traut: Lynn, Yoyo, Locitelli, Lawrence, Julien und der allgegenwärtige Jericho: Sie alle werden, nachdem der Leser sie doch vor gefühlten Monaten schon kennen gelernt hat, immer und immer wieder psychologisiert, analysiert, erklärt. Das geschieht natürlich auf Kosten der Spannung. Spannung aber ist der einzige Kitt, der solch ein Riesengebilde zusammenhalten kann.
Dann wieder: Atemlosigkeit. Immer wieder und nochmals einen draufsetzen. Die Jagdszene quer durch Berlin und auch der Showdown auf dem Mond werden 10, 12 mal zu einem Ende geführt, um dann wieder aufzuleben nach einer überraschenden Wendung, nach einem Doch-noch-Überleben. Irgendwann ermüdet natürlich auch solch ein Erzählmuster zumal die abschließende Pointe doch einigermaßen vorhersehbar ist.
Schätzing, und das hat mich überrascht (warum eigentlich?), schreibt durchaus gut, von einigen gar zu banalisierenden Momenten abgesehen. Deutlich wird das in den Beschreibungen diverser Technologien wie z.B. des Weltallfahrstuhls, des Mondhotels "Gaia" oder auch des futuristischen Shanghais. Überhaupt sind es diese Utopien, die den Reiz des Romans ausmachen. Das weiß Schätzing natürlich selbst, denn nicht umsonst hat er einen ganzen Stab von wissenschaftlichen Beratern im Anhang aufgeführt.
jagothello am 20. Juni 10
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