letztes-Gedenken.de
In dem Stadtteil, in dem ich wohne, ersetzt der Friedhof den Park. Ich gehe gerne über diesen Friedhof, lädt er doch zu so mancher Kontemplation ein. Er macht ehrfürchtig! Die Menschen rennen hier nicht, sprechen nicht laut, essen nicht. Sie verhalten sich dezent. Wie gesagt: Mir gefällt das.
Angesichts der so deutlich greif- und sichtbaren Symbole unserer Vergänglichkeit verfalle ich immer zügig in eine melancholische Stimmung und werde so ein klein bisschen morbid. Haben es die Menschen, denen hie gedacht wird, nicht irgendwie auch geschafft? Es hinter sich? Sich einen Vorsprung erarbeitet? Etwas morbid, in der Tat. Das verfliegt dann zum Glück meistens schnell.
Neulich wurde meine mentale Finsternis vertrieben durch eine Geschäftsidee. Wie wäre es, würde man die ganze Choose verlagern ins Netz? Der Friedhof dient ja nicht dem Verblichenen. Er dient dem Gedenkenden, dem Trauernden. Er sucht das Grab auf, um einen inneren Dialog zu führen, ein "Was ich noch zu sagen hätte" mit dem Toten zu führen. Das ist es doch, was Trost spendet? Jedenfalls eine zutiefst virtuelle Angelegenheit, wenn man so will.
Das geht auch im Netz. Die Seite würde alle möglichen Grabesstellen anbieten, eine Riesenauswahl an Steinen bereithalten. Urnenbestattung wäre hier etwas preiswerter als der Sarg. Den wiederum gäbe es in amazonesker Vielfalt. Das Umfeld des Grabes wäre frei wählbar, amerikanische Grabfelder-Landschaft (wie man sie immer zu Beginn von Tom-Cruise-Agentenfilmen sieht), indianische Baumstelle, westeuropäische Parklandschaften, südeuropäisches Steinefeld, islamische, hinduistische, jüdische Varianten. Die Bestattungszeremonie selbst wählbar aus 5000 Settings, angefangen bei der Kleidung der Pfarrerin. Ihre Rede frei programmierbar oder aus einer der vielen Vorlagen auswählbar. Alles dann per live-stream online für die lieben Hinterbliebenen, jederzeit abrufbar (und nicht ausschließlich vormittags um 9.30 Uhr, wenn eigentlich andere Dinge ganz wichtig sind). Die Grabstelle kann natürlich rund um die Uhr besucht werden, lange Anreisewege entfallen.
Solches kommt bestimmt, wenn auch nicht unbedingt von mir. Und in 25 Jahren gibt`s dann den Sehnsuchtsblick zurück in die gute, alte Zeit. Insofern passiert ja nichts Neues.
Du hast keine Chance. Nutze sie!
Im journalistischen und politischen Geplaudere steht die "Chance" in hohem Kurs. Dass wie ehedem der Tellerwäscher zum Millionär werden können dürfe, lenkt den ausgebeuteten Minijobber, den gedemütigten Bildungsverlierer davon ab, dass sozial- ökonomische Strukturen eingedampft werden. Das Bündnis Schröder-Fischer steht dafür mit seinem guten Namen.
Die Beschwörung der Lebenschancen landauf, landab ist aber darüber hinaus zu verstehen als Euphemismus dessen, dass es im täglichen kapitalistischen Rattenrennen in allererster Linie um etwas ganz anderes: Um soziale Auslese, um Selektion!
Sicher: Es besteht schon die Chance für das 8-jährige Unterschichtskind aus prekärem Lebensumfeld im Laufe der nächsten 2 Jahre noch auf den für die Realschulempfehlung geforderten Notendurchschnitt von 2,65 zu kommen. Wer will das bestreiten? Bei entsprechender Nachhilfe in den Kernfächern langt es vielleicht gar für die 2,4, die zum Gymnasium berechtigt (nebenbei: Welch Armutszeugnis, welch peinliches Eingestehen eigenen Versagens: Empfehlen von Nachhilfe!); institutionell geholfen aber wird nicht. Finanziell schon gar nicht. Und so ist es eben sehr, sehr unwahrscheinlich, dass Chancen genutzt und Selektion vermieden werden. Da können die Schulgesetzemacher von "individueller Förderung" schwadronieren, bis sie rot-grün-gelb-schwarz werden. Letztendlich fehlt es an ehrlichem Interesse daran, dass wirklich Gerechtigkeit und Chancengleichheit hergestellt wird in unserem Gemeinwesen.
jagothello am 09. Juli 10
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Nachtzug nach Lissabon
Ein Kollege von mir ist tot. Minutiös geplant hat er vor seinem Sterben seine eigene Totenfeier; sich gewünscht, dass aus Merciers Roman "Nachtzug nach Lissabon" gelesen werde.
Abbruch, Umbruch, Aufbruch- das sind die Themen dieses unprätentiösen Textes und seines Helden, des Altphilologen Gregorius. Nach 30 Jahren pädagogischer Tätigkeit an einem Gymnasium bewegt ihn eine Zufallsbekanntschaft (natürlich mit einer Frau; der Kontakt ist flüchtig, doch dramatisch: Sie scheint sich von einer Brücke stürzen zu wollen.) zu einem drastischen Bruch mit seinem bequemen Leben. Er beendet von einer Minute auf die nächste seine Laufbahn, packt seine sieben Sachen und setzt sich in den Nachtzug nach Lissabon- einem Phantom auf der Spur, dafür mit Eichendorf`scher Sehnsucht gesegnet, die sich nach Jahrzehnten der Kerkerhaft nun Bahn bricht. Jedenfalls: eine echte Wahnsinnstat!
Derlei radikalen Inspirationen bleiben ja außerhalb der erzählten Welt zumeist aus und so war es wohl auch bei F., meinem Kollegen, dem romantischen Zufallssucher. Wahrscheinlich aber gab es in seinem Leben einen träumerischen Wunsch nach Neubeginn, ein Schwelgen in der Zeit, in der die Impulsivität und auch alles andere Mögliche noch möglich war.
So habe ich die Botschaft verstanden, als mir da vor der Friedhofskapelle stehend vorgelesen wurde. Oder besser: So verstehe ich es heute. Denn damals kannte ich den Text noch gar nicht und war mit selektivem Vortrag und Anspruch überfordert. Literatur gehört immer in den größtmöglichen Zusammenhang und so gibt es nur eins: Lesen!
jagothello am 08. Juli 10
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