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LOST: Man stelle sich vor, so etwas gäbe es auch mal in unserer spießigen Mottenkiste: Fernsehen, das nach Kino aussieht. Mehrdimensionale Charaktere, die sich dennoch stimmig entwickeln. Ein klares Bekenntnis zur Metaphorik jeglicher Fiktion und somit die Forderung nach intellektueller Rezeption. Beschwörung. Trauer! Spiel mit kultureller Überlieferung. Liebe! Hass! Atemlose Spannung. Und natürlich eine anspruchsvolle Erzählweise, die der Multiperspektivität eines jeden echten Dramas gerecht wird. Fernsehen mit Ereignischarakter ist das, auch wenn einiges vage bleibt. So ist das doch nun mal im Leben.
Die moderne amerikanische Qualitätsserie insgesamt ist ja bereits Mythos geworden, bevor hierzulande mal wenigstens ein Anfang gemacht werden konnte, das ein oder andere nachzuahmen. Die Produktionsverträge über all den seifigen, kleinbürgerlichen Traum-Brei laufen wohl noch zu lange.
LOST ist erst recht Mythos, oder besser: mythisch. Die Serie erzählt über 121 Folgen (jeweils ca. 42 Minuten lang) das Schicksal eines runden Dutzend im wahrsten Sinne des Wortes Gestrandeter. Gestrandet auf einer abgedrehten Insel nach einem Flugzeugabsturz. In Rück- und Seitblenden entfaltet sich die Tragik all dieser Verlorenen, Zukunftsprojektionen visualisieren ein Was hätte sein können; doch schnell wird klar: Die Insel ist eine Falle, aus der es kein physisches Entrinnen gibt, aber: Sie ist auch die Chance für einen Neuanfang- mental, spirituell, sozial.
Matthew Fox, der den Shephard verkörpert, behauptete im Interview, es sei bereits 2004 bei Drehbeginn klar gewesen, dass alles endet, wie es begann: Er verletzt, benommen im Bambuswald liegend. Alleine, verwirrt (verwirrt sein: Fox´ Lieblingsgestus). Die erste Einstellung von Folge 1 markiert den Beginn eines 6-jährigen Martyriums, die letzte ein bewusstes, vielleicht glückliches Sterben. Möglicherweise liegt zwischen beiden Szenen aber auch bloß eine beglückende Nahtoderfahrung, wer weiß. Die Produzenten selbst legen das durchaus nahe, wenn sie anderswo eine LOST in 8 Minuten- Fassung anbieten. Dieses Deutungsmuster hat zudem den Charme, all die empirisch unfassbare Irrationalität diverser Zeitsprünge oder der sich dann und wann bewegenden Insel plausibel werden zu lassen. Aber wie gesagt: Die Ereignisoberfläche, eine These der gesamten Produktion, ist eben nur das: Oberfläche. Und austauschbar. 3 Thesen zu LOST (und somit zum Leben):
1. Es braucht Mut. Mut und Geschmack. Mut, sich zu öffnen. Loszulassen. Sich zu befreien von dem, das unfrei macht und hindert, Selbstbestimmtheit und Mitgefühl zu leben. Geschmack, um ein Gefühl für das Geheimnis in uns zu entwickeln. Sinn und Geschmack für die Unendlichkeit, wie Schleiermacher im Hinblick auf echte Religion sagt. Jack entwickelt eine solche Religion. Er schafft als erfolgreicher, empirisch geschulter Chirurg eine Verbindung zu den spirituellen, diffusen Unwägbarkeiten seiner Existenz und gewinnt eine Perspektive für ein lebendiges Leben, fernab der Zwänge und Nöte der modernen Zivilisationsgesellschaft sowie deren komplizierter Sozialtransfers.
Bevor Jack das zweite Mal im Bambuswäldchen danieder sinkt, trinkt er auf Geheiß des bisherigen Inselwächters von dem Bach, der ins Herzen der Insel führt und dort sein geheimnisvolles Wunderwerk tut. Ein Bach wie der mythisch-antike Vergessensfluss Lethe. Vergessen ist Loslassen, Trennung. Loslassen das vielleicht zentrale Leitmotiv der Serie. Man bedenke mal...
2. Nach innen geht der geheimnisvolle Weg; Tatsächlich ist die Vertiefung ins Ich für Jack und seine Leidensgenossen der Königsweg. Es geht um Erkenntnis und Erkundung; des Unglücks, all der Unzulänglichkeiten, des Versagens und ihrer Ursachen. Ozeanographie ist da zu betreiben, wie Freud sagt. Nur dann darf mit Einsicht und Erlösung gerechnet werden.
Tatsächlich immer wieder verwunderlich, wie schnell die LOST-Figuren es aufgeben, sachliche Statusinformationen zu erlangen. Nicht eine einzige Einschätzung zur ungeheuerlichen Situation wird abgegeben. Die existenziellen Seinsfragen, auf die die Figuren Folge um Folge geworfen werden, klären sich in unvoreingenommener Ich-Versenkung und führen zu Gutem. Schön das Beispiel Jins, der seiner Frau Sun, inspiriert von der Inselsituation, einen Seitensprung nicht nur vergibt, sondern zu reinigenden Einsichten seine Ehe betreffend geführt wird. Der kommunikative Austausch hingegen bleibt oft genug peripher, einsilbig.
3. Phantasie! Einbildungskraft und Vorstellungsvermögen. Jack entwickelt eine Was-wäre-wenn- Perspektive, die ihn aufrichtet und beglückt. Welche Chancen hätten sich ihm eröffnet, spirituell bereichert von der Insel, wäre er nicht abgestürzt, sondern sicher in Los Angeles gelandet!
Die Bereitschaft, sich führen und inspirieren zu lassen. Dazu ist Glaube nötig, dem Jack sich mehr und mehr öffnet. Sein Glaube ist aber keineswegs institutioneller Natur, nicht einmal tradierter! Vielmehr zeigt er sich in der Aufgabe verstockter Determinismusgewissheit, in der Bereitschaft, Unendlichkeit zu ahnen; auch hierin natürlich, und das ist sicherlich kein Zufall, durch und durch ein romantischer Held. Jack empfindet das Lebendige der ihm vermittelten Teilhabe am Geheimnis, das ihn umgibt. Und das belebt ihn(,) selbst(,) noch kurz vor seinem Tod.
121 Folgen, 6 Staffeln, je einige DVDs. Ich verleihe sie Ihnen gerne, nur zu!
Layout by ichichich.