Ein paar Wochen ist es her (FAS vom 15.08.2011), dass Frank Schirrmacher die perversen Geldmarkt- Kapriolen der globalisierten Finanzgeier als wirkungsmächtiges Resoziali-sierungsprogramm für die Linke bezeichnete. Haben die Linken doch Recht gehabt? stellte er damals sein sicherlich mühevoll erkämpftes und lange Zeit gegen alle möglichen Anfechtungen verteidigtes Weltbild infrage und mit ihm zugleich die in Generationen gewachsene bürgerliche Ideologie. Suggerierte Antwort: Ja, haben sie. Erstaunlich genug für das Resümee eines FAZ-Herausgebers.
Erst recht bemerkenswert an Schirrmachers Injurien ist, dass er bei den Klagen über die ungezügelte Gier einer hemmungslosen Abzocker-Kaste mitsamt dienstfertiger Polit- Akteure nicht stehen bleibt. Er konstatiert vielmehr einen einhergehenden Verfall bürgerlich- sittlicher Grundwerte: Der Banker als ungebildeter, unmanierlicher, roher Geselle, der zum Selbstzweck erst das Gemeinwesen in seinen Grundfesten erschüttert und dann, wenn er scheitert und der Rettung bedarf, nicht einmal den Anstand (als klassischer Bürgertugend schlechthin) aufbringt, sich zu entschuldigen, Demut zu zeigen- von Dank ganz zu schweigen. Dann die Politikerin (gemeint ist in erster Linie die Kanzlerin), die weder Kraft noch Willen zeigt, moralische Verantwortung einzufordern- vielleicht sogar als notwendige Vorbedingung für jedwede Hilfe. Die also auch die psychologischen Befindlichkeiten ihrer Wählerklientel kaum kennt, kaum einschätzen kann- offenbar: Kein Wort, nichts, niemand!
Gerade diese gewissermaßen ästhetische Dimension hatte ich in der Tat in all den Kommentaren und Talks zum Thema seltsam unberücksichtigt gefunden, auch wenn ich zu eben jener angesprochenen Klientel nicht unbedingt zähle.
Ein fulminanter Text ist das jedenfalls, eine Sternstunde für die Zunft politischer Korrespondenten. Klug und ehrlich in der Analyse, Mitleid erregend im durchschimmernden Leid am Zustand einer großen Idee (meinetwegen einer Ideologie), der der Autor jahrzehntelang leidenschaftlich anhing und der die FAZ gewissermaßen ihre Existenz verdankt. Mich hat´s damals beinahe von der Sonnenliege gekegelt...
Im Schwesterblatt (FAZ am 29.09.2011; Archivartikel Die sanfte Steuerung der Bildung leider kostenpflichtig) nun aktuell eine vergleichbare linke Systemkritik und zwar in Form einer unumstößlichen, radikalen Analyse der Bedingungen, unter denen die sogenannten Reformen des Bildungswesens in den vergangenen 11 Jahren vorgenommen wurden. Jochen Krautz, Fachhochschullehrer am Fachbereich Bildungswesen der Alanus-Hochschule/Bonn, legt dar, wie unter Federführung der Bertelsmann-Stiftung Verbände und Politik die diversen Schulleistungsstudien für ihre Zwecke deuten und aus diesen Interpretationen einen utilitaristischen, auf ökonomische Verwertbarkeit gerichteten Bildungsbegriff ableiten, den sie dann mithilfe professioneller Lobbyarbeit in Politik und Verwaltung verankern. So wird, anstatt sich kritisch und konstruktiv mit den Ergebnissen der Studien zu befassen und ggf. geeignete Konsequenzen zu entwickeln, eine "neue" Wirklichkeit geschaffen, ein neues Paradigma der Bildung- umrissen mit den Begriffen Kompetenz und Flexibilität. Eine demokratische Legitimation oder auch "nur" pädagogische Notwendigkeit dafür besteht nicht.
Das geht soweit, dass Arbeitsgruppen der Stiftung Kommunikationsstrategien für den Umgang mit sogenannten Veto-Playern, also potentiellen Protestlern, ersinnen. Die Spaltung der Opposition wird zu diesem Zwecke strategisch betrieben, indem hier diffamiert und dort umschmeichelt wird. Propaganda at it´s best! Anpassung, insbesondere der Universitäten, an arbeitgeberfreundliche Bildungsstandards ist das höchste Ziel.
Die Konsequenzen eines solchen Paradigmenwechsels in der Bildung liegen offen zutage- die PISA- Reformen an den Schulen fruchten nicht, weil bloßer Kompetenzerwerb fehlendes Wissen nicht ersetzt und Verwaltung keine Pädagogik. Die Bologna-Reformen an den Universitäten können nach nur ein paar Jahren getrost als gescheitert gelten; nicht nur die Ingenieure wenden sich mit Grausen ab und verlangen ihr Prädikat "Dipl-Ing" zurück. Auch Lehrer und Juristen wehren sich gegen ein Schmalspurstudium, in dem reine Gedächtnisakrobatik betrieben wird und kein Platz mehr bleibt für argumentative Entfaltung, Dissenz und Rhetorik.
Veto-Player also allerorten. Ganz so tot wie oftmals behauptet scheint die Kulturkämpfergeneration der 60er- und 70er- Geister noch nicht zu sein. Dass ihr Zentralorgan die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist; das ist allerdings neu!
«Die
Bologna-Reformen an den Universitäten»,
wie sie in Deutschland umgesetzt wurden, sollten Sie allerdings hinzufügen. Dafür haben die Bertelsmänner et cetera gesorgt. In anderen Ländern sind diese Probleme in diesem Ausmaß nicht annähernd bekannt. Das würden Ihnen nicht nur viele Menschen meiner Generation bestätigen.
Ich habe den Text von Schirrmacher, der nach wie vor nicht unbedingt zu meinen Lieblingen zählt, mit Interesse gelesen und auch gerne durch Verlinkung weiterempfohlen. Vermitlich steckt hinter der FAZ tatsächlich ein kluger Kopf; klug alleine wegen seiner Fähigkeit, einsichtig zu sein. Was man von manch einer sogenannten linken Zeitung nicht unbedingt behaupten kann. Aber das wird wohl ebenfalls der mittlerweile rein mehrwertausgerichteten Direction der Führungsetagen in den Zeitugsverlagen geschuldet sein, in denen man lediglich rechnen will und nicht denken sowie keine soziale Verantwortung mehr kennt (Gewinne bzw. Journalistenvernichtung bei DuMont, Springer und anderen). Und ich kann mir nur schwerlich vorstellen, daß sich daran noch etwas zum Positiven hin verändern wird. Und wenn es doch noch dazu kommen sollte, am Ende gar aus der Frankfurter Allgemeinheit – dann wär's mir auch egal. Wirkliche Denkanstöße waren noch nie ideologiegebunden.
Das größte Problem scheint mir ohnehin zu sein, daß die meisten Menschen sich nach dem Berlusconi-Prinzip informieren. So lesen sich denn auch viele Kommentare im Internet – aus dem man, wollte man es, eine Fülle an Informationen beziehen könnte, die das allfrühabendliche Fernsehen unterschlägt. Das arbeitet zur besten Sendezeit die Sechziger und Siebziger auf. Gezeigt werden Lieschen und Fritzchen Müller, die aus dem Dorf in die große Stadt umzogen, um das süße Leben in der Disco kennenzulernen. Schon damals haben sie sich nicht für die eigentlichen Ereignisse interessiert.
Das Radio bildet nach wie vor eine Ausnahme. Aber wer hört da noch zu? Noch? Schon vor dreißig Jahren lauschte man lieber den Hits aus der guten alten Zeit. So gesehen hat sich nichts verändert und wird sich auch nichts verändern. Jedenfalls nicht für diejenigen, denen die ganze Politik ohnehin immer am sonstwo vorbeiging. Aber alle debattieren sie mit über den Schirm über Griechenland. Und jammern. Weil's ihnen so schlecht geht, schlechter als den Griechen. Aber um daran etwas zu ändern, da müßten sie sich bewegen. Da gehen sie doch lieber in die unterhaltsame Muckibude.
Und wieder die FAZ... Auch der von Ihnen empfohlene Blog-Eintrag verweist ja
dorthin, nämlich zum Lehrstuhlräumer Prof. Marius Reiser (Mainz), der den Bologna-Reformprozess gründlich seziert und als Motiv für seine Demission angibt. Speziell diese Zeitung scheint, wenn auch keine Häutung, so doch eine Phase durchzumachen, in der an alten Gewissheiten gerüttelt wird. Das fordert mir Respekt ab, auch wenn ich an anderen Stellen schwer Erträgliches geboten bekomme. Man bleibt aber der Aufklärung verpflichtet, die ja, so mag man hoffen, irgendwann auch wieder in bessere Zeiten mündet oder in solche, die man dafür hält. Die komplexen Sujets jedenfalls sind für meinen Geschmack in einem 4- oder 5- Zeitungs- Spalter ganz gut aufgehoben.
Mit Bologna á la Deutschland schießt man möglicherweise mal wieder weit über die Ziele hinaus im Vergleich zu anderen Ländern. Das kann ich nicht so einschätzen, glaube es Ihnen aber gerne. Die terriermäßige Verbissenheit, mit der
hier bei uns Professoren und Studenten gegängelt werden, hat aus meiner Sicht vor allem zu tun mit einem tief empfundenen Unbehagen gegenüber allem, was nach Freiheit riecht, nach Geist, Kreativität oder Selbstverwirklichung. Interessant ja auch, dass die Bologna- "Modularisierung" der Lehrstoffe im Grunde
Verschulung bedeutet- interessant deswegen, weil doch gerade der Schule kein Ministerieller mehr über den Weg traut. Wie verzweifelt muss man sein, wenn man die Cholera mit der Pest zu bekämpfen sucht!
hatte ich vor gut zwei Jahren auch gelesen und mich verneigt. Der zehn Jahre Jüngere schildert, wie ich es noch früher erleben durfte: «Da zogen viele junge Leute hin, um das zu genießen, was man die ‹akademische Freiheit› nannte. Sie lasen Bücher, diskutierten und tranken Kaffee. Sie besuchten die Vorlesungen der Professoren oder auch nicht, denn es bestand keine Pflicht dazu. Es gab Übungen und Seminare, bei denen man tunlichst nicht allzu oft fehlen sollte. Man schrieb Seminararbeiten, ab und zu war eine Prüfung zu bestehen und am Ende noch eine Abschlussarbeit zu schreiben. Dann erhielt man eine Urkunde und hatte damit alle Chancen, eine gute Stelle zu erhalten.» Eine Universität war das, von der ich meine, daß sie es wieder werden müßte, wollte man wieder Menschen statt Bruttosozialproduktmaschinen zulassen.
Ich kann dieses ganze Leistungssteigerungsgerede, dieses Effizienzgebrabbel nicht mehr hören. Das ist schon sehr deutsch-protestantisch, an dem sich gefälligst die anderen zu orientieren und von dem die wenigsten etwas haben. Nein, Verzweiflung ist das nicht, das gehört zum System. Und wenn ein Politiker von etwas nichts weiß, weil er keine Lust darauf hatte, sich selber zu informieren, oder auch, als (FDP-)Jünger(er), wegen Bologna und so kaum Gelegenheit dazu hatte, hinzuzulernen, etwa durch eigene Gedanken (zu denen man nur gelangt, wenn man sich dazu die Freiheit des Denkens nimmt, was innerhalb dieser Lehr- oder auch Schulanstalten nicht [mehr] möglich ist, sein soll). In anderen, allen möglichen Zusammenhängen habe ich das immer wieder als
Kadavergehorsam bezeichnet. Und daran wird sich nichts ändern. Jedenfalls nicht, solange der größte Teil der Deutschen fest(gemauert) ist in seinem unerschütterlichen Glauben, an seinem Wesen habe die Welt zu genesen. Andererseits darf nicht verschwiegen werden, daß es zunehmend mehr anderer Nationalitäten gibt, die das für gesund halten. Es reicht schon, daran zu denken, daß die Griechen (und bald die Portugiesen, die Italiener, die Spanier und so weiter?) ihr Tafelsilber verscherbeln sollen, um sogenannten Investoren die raffgierigen Mäuler zu füllen. Und nichts anderem dient auch dieses deutsche Verständnis von Bologna. Wer von denen traut sich denn (noch) zu sagen:
Es gibt viel zu tun, warten wir's ab. Oder so: Jetzt ist es zu spät.
Schulen müssen sich schon auseinandersetzen mit der Frage, warum es ihnen weniger gelingt, ihre Klientel zu fördern, zu besseren Abschlüssen zu führen als etwa eine Anstalt um die Ecke oder auch die 100km weiter mit einer vergleichbaren Population. Oft genug sind da strukturelle Anpassungen nötig oder eine Reform des Unterrichts von oben; beispielsweise durch die Bereitstellung von Ressourcen, um größere Leseanteile im Unterricht zu bewerkstelligen oder das Einfordern "neuer" fachdidaktischer Standards wie die Einübung heuristischer Verfahren im Mathematikunterricht. Insofern unterliegt auch der Bildungssektor verbindlichen Qualitätsanforderungen und entsprechenden Überprüfungen. Vorbei glücklicherweise die Zeiten, in denen quasi jede Lehrkraft eigene Bildungsstandards an die Schülerschaft herantragen konnte und die Fragen nach Inhalte, Beurteilung und Unterrichtsqualität beliebig beantwortet werden durften.
Größte Vorsicht aber ist geboten, wenn fortan mit Leistung lediglich Verwertbarkeit gemeint ist und mit Bildung berufsbezogenes Berufsschulwissen. Wenn Reformen weder sauber demokratisch legitimiert, gesellschaftlich gewollt und fachdidaktisch erprobt sind.
Die Umdeutung des Bildungsbegriffs wurde vorgenommen in obskuren, finsteren Zirkeln und zwar heimlich, still und leise. Da braucht es noch mehr Veto-Player und zwar laute.
Kein Dank der Bänker?! Warum kann man jemanden nicht einfach mal so insolvent lassen wie er ist, unserem Bildungssystem die Pleite einfach mal gönnen. Wie man an einer alten Wunde nicht rührt, sondern wartet, daß der Schorf abfällt.
Weil die Zeit drängt? Aktionen laufen ins Leere, wenn sie keine Reaktion treffen, durch Nichtbeachtung. Derweil sollten wir in den Urlaub fahren.