10 oder 11 war ich bei meinem ersten Besuch in Paris. Der Sommerurlaub der frankophilen Eltern sollte in die Bretagne gehen, in das wellengepeitschte Le Conquet, ganz im Westen, Nähe Brest. Da man nun mal drei Kinder hatte, wurden die auf den Rücksitz des BMW 1600 verfrachtet und verpflichtet, bis zum Etappenziel Paris die Klappe zu halten und aus dem Fenster zu gucken. Kein Wunder, dass der Mittelplatz immer ausgesprochen unbeliebt war.
8 Stunden später dann Verfranserei an der Porte de Clingnancourt, Smog, Megaverkehr und v.a.: Durst und Hunger; eine mit den Fingern greifbare Nervosität. Eine Schlafstatt musste her und zwar zügig.
Spontan musste und sollte alles sein und so war an eine spießige Buchung vorab gar nicht zu denken. Viel lieber ließ man (i.e. die Elterntyrannen) sich vom wirbelnden Strom treiben; das ging damals als Romantik durch. Eine konkrete Adresse hätten wir allerdings auch ohnehin nie und nimmer gefunden, insofern waren das schon pragmatische Leute, meine Eltern.
An Land gespült dann irgendwann trotzdem und zwar ohne jedes Zutun geschweige denn Ortskenntnis im 18. Arrondissement, ganz im Norden der Stadt, und hier begann dann das zusätzlich ermüdende Radebrechen nach Logis ("Ich hab halt Latein im Abi gebraucht.")- am besten alle in einem Zimmer für 22,50 DM.
Die Weigerung der Financiers, gleich zwei oder drei Räume für drei Nächte bezahlen zu wollen trieb uns immer dichter hinein in dieses brodelnde Viertel und zwar in immer abgelegenere Winkel, in denen die Antworten an den Rezeptionen dann gerne einmal lauteten: "Eine ganze Nacht für fünf Personen? MIT Kindern?" Wahrscheinlich war schon die Sittenpolizei aufmerksam geworden.
Kompromisslösung dann an der Rue Ordener, gleich am Café Nord an der Place Jules Joffrin- ein Katzensprung nur an den Fuß des Montmatre heran aber davon wussten wir erstmal noch gar nichts. Die Touristen beklettern den Sacre Coeur- Berg nämlich gerne von der anderen Seite, am Moulin Rouge vorbei und heutzutage natürlich noch lieber mit dem Aufzug (den es damals allerdings noch nicht gab).
An der Place Jules Joffrin also glückte die Zimmersuche und es wurde wider jeden Erwartens ein lang anhaltenes, ein echtes Glück. Nach den doch äußerst fragwürdigen ersten Kontakten mit dem Großstadtsumpf war wirklich nichts gutes mehr zu erwarten gewesen. Und auf den ersten Blick drohte in der Absteige (sie nannte sich immerhin "Hotel") auch weiteres Ungemach.
Ein dunkler, schmuckloser Raum in der 3. Etage inklusive morbidem Hinterhof-Charme; eindringlichen olifaktorischen Reizen dank mediterraner Freiesskultur vis á vis (und, na ja, Küchenabluftschacht!); knarzende Dielen, enge Treppen, mittendrin, oben und unten Zuhälter, Huren, all das multiethnische Volk wie es Charles Bukowski und Henry Miller sich für ihre berühmten Paris-Erzählungen abgeguckt haben; bunt und bildermächtig wie in T.C. Boyles "Wassermusik" ging es zu, gleich vor der Tür "em Veedel", wie man bei der kleinen rheinischen Verwandten sagt, zwischen piscine, Markt, Bar, Café und Metro. Um es gleich zu sagen: Ich fahre noch heute dorthin. Ich liebte es und ich liebe es und ich übertreibe damit nicht.
Paris ist hier einmalig ursprünglich und lebendig, genau richtig für einen blutjungen Anfänger, der baden will -ohne es zu wissen, natürlich- im Sud dieses fantastischen Molochs und den nichts weniger interessiert als Rodin, die Prachtstraßen- und bauten oder Kirchen im Zuckerbäckerstil.
Was mir ähnlich tiefe Eindrücke wie der Charme dieses an sich unspektakulären Viertels bereitete, war... die Metro.
Ein Biotop für sich (und hier passt die biologische Metapher wirklich einmal), man weiß es ja und ich habe wenig neue Pointen hinzuzufügen. Aber welchen Eindruck diese hier schmuddelige, bedrohliche, finstere und dort marmorne, architektonisch unglaublich diffizile Welt und ihre wimmelnde Geschäftigkeit auf den staunenden Provinzling machte! Und nicht nur in diesem Jahr, sondern in vielen darauffolgenden- erst mit den Eltern, die die Begeisterung teilten (wenngleich sie ausflugsweise freilich an die mondänen, deutlich kühleren Orte der Stadt strebten), später mit Freundin & Freunden und dann mit eigener Familie: Die Ergriffenheit, die mich mit gleicher Intensität noch heute erfasst an diesen wahrhaften Lebensorten ist eine stabile Konstante geworden in meinem Leben.