... Distanzlosigkeit
Vor noch nicht so langer Zeit gab es zwischen Zuschauern und Rasen im Stadion eine sogenannte Tartanbahn. Sinnbild einer deutschen Erfindung in der mythischen Kultstätte der Teutonen, nämlich jenes öffentlicher Distanz. Heute gibt es diese sozialdemokratischen Relikte aus der fernen Zeit, in der ein Stadion nicht "Signal-Iduna-Park", sondern "Westfalenstadion" oder "Parkstadion" hieß und ein öffentlicher Ort des Sports war statt Eigentum eines russischen Oligarchen, längst nicht mehr; nur noch Rasen gibt es. Das nackte! Keine Distanz mehr, dafür inszenierte Nähe und nicht nur im Stadion. Das Fernsehen hat den kollektiven Taumel erfunden und etabliert. Wir fallen uns nun um den Hals und bekennen frank und frei: Ich mag dich, bin dir zugewandt, find dich klasse, hab dich lieb. Simulierenderweise natürlich nur, denn mehr Sympathie empfinden wir für unser Gegenüber deshalb noch lange nicht.
Als lebte meine Kohorte in Catania wird gedrückt, geherzt, geküsst. Das Händeschütteln ist spießig, verpönt, passé, was für Nerds. Cool ist es, locker zu busseln und zu streicheln. Mich haben Kriegskinder erzogen, Akademiker, komplexe Menschen. Da war nicht viel mit Knutschen und Kuscheln, schon gar nicht mit Fremden. Wahrscheinlich aufgrund dieser Prägung ist besagter Körperkontakt mir oft ungeheuer, häufig lästig, manchmal zuwider. Aber wie sich wehren? Die soziale Konvention zu brechen ist meine Sache nicht und so ertrage ich unerträgliche Situationen. Oft vertrackte: Ihr ein Begrüßungsküsschen? Gerne! Ihrer Freundin? Ich kenne sie doch kaum. Ich will das nicht. Und sie vielleicht auch nicht? Ein flüchtiges Küsschen gar könnte sie als unpassende Indiskretion eines Fremden zurückweisen. Sooo etabliert ist das zärtliche Ritual noch nicht. Schon also wird´s ausgesprochen beklemmend. Und dann: Wie reagiert sie auf meine nun beschlossene Verweigerung der doch geforderten Geste? Wie unsere gemeinsame Freundin? Wird das zwischen uns stehen? Und vor allem: Was passiert beim Abschied? Mit Gewalt, liebe Klischee- und Normerfinder allerorten, geht da gar nichts, das steht mal fest.
PS: Die in Ehren ergrauten Beastie Boys lassen sich von mir inspirieren. Heute sagen Sie im Interview, bzw. einer von Ihnen, gegen Begrüßungsküsse sei nichts einzuwenden. Selbst Lippenküssler und Lippenküsslerinnen treffe man immer wieder gerne. Der Zwang zum Kuss, der formelle Ritus aber sei nervend. Sag ich doch.
jagothello am 27. April 11
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