Hartz IV-Chip
Die Presse und die Gerichte: Das sind die Organe, in die ich Vertrauen habe. Vielleicht ist das naiv, aber es hat etwas mit meiner Biographie zu tun. Sicher: Es gibt den Focus und Springer und der SPIEGEL ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Aber es gibt Alternativen, mittlerweile auch online.
Das BVG hat im Februar 2010 geurteilt, dass die Regelsätze des SGB II, welche die finanziellen Ansprüche von Kindern aus Hartz IV-Familien betreffen, einem verfassungsgemäßen Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht entsprechen. Der Gesetzgeber muss nachbessern. U.a. bezieht sich das Gericht auf den berühmten Artikel 1, Abs 1 GG: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich dachte bislang immer, diese Würde sei gewissermaßen eine abstrakte, eine virtuelle- jedenfalls nicht einklagbar. Ich habe mich da wohl geirrt- schön so. Offenbar gibt es doch sehr genau fassbare, konkrete Vorstellungen darüber, was eine solche Würde eigentlich genau meint.
Das Gericht belehrt also Merkels Kabinett darüber, was das Wahlvolk, auch das nicht arbeitende, so braucht für das tägliche Leben und Überleben. Traurig genug, dass unsere Nomenklatur solcher Nachhilfe bedarf; beruhigend aber auch, dass es eine Instanz gibt, die sie dann eben auch erteilt. Mein Vertrauen festigt sich.
Die Umsetzung scheint mir etwas für Technokraten zu sein. Die gibt es ja genug. Das Datenschutzargument der Familienministerin kann ich psychologisch verstehen. Sie schützt es vor, weil sie beleidigt ist: Immerhin kommen ja die nun so viel diskutierten Ideen von der ministerialbürokratischen Konkurrenz. Sachlich aber kann ich die Einwände nicht nachvollziehen, denn Datenschutzinteressen werden ja wohl nicht verletzt, wenn Behörden wissen, dass Transferempfänger eine Bibliothek aufsuchen oder einem Verein beitreten. Sie wissen ja auch, beispielsweise, wie der Fernseher aussieht, wie groß die Wohnung ist usw.
An anderer Stelle wird mir aber doch unwohl: Zum einen: Die diskutierten 60,-€ Guthaben monatlich auf dem Chip reichen, wenn überhaupt, für 1-2 Stunden Musikunterricht, den v.d. Leyen ja so gerne erteilt wissen möchte. Eine Vereinsmitgliedschaft wäre so schon finanzierbar; die Politik erliegt aber wieder einmal dem Impuls zur Etikettenschwindelei und fabuliert von teuren Bildungsangeboten, die sie dann noch nicht bezahlen kann. Und: Bei drei Kindern geht es um 180,-€ Unterstützung pro Monat. Das ist ein erheblicher Betrag, den Nicht-Empfänger häufig nicht aufbringen können oder wollen für die infrage stehenden Zwecke. Wie wird gesichert, dass deren Kinder nicht zu kurz kommen? Warum scheuen sich die Debattenführer so furchtsam, endlich die Bürgerarbeit zu verlangen und in den Alltag der Empfängergemeinde zu implementieren? Gartenarbeit? Kinderbetreuung? Einkaufsdienste? Warum denn nicht? Mir sind viele Familien bekannt, die bei Vollzeitarbeit von ihr und ihm einerseits den Höchstbeitrag im Kindergarten für ihre Sprösslinge zu tragen haben, diesen aber wegen finanzieller Überforderung tatsächlich nicht aufbringen können und ihre Kinder nur stundenweise bringen. Da fragt man sich schon, warum denn Menschen, die zuhause bleiben können/müssen, Anspruch auf Finanzierung einer außerhäusigen Rundumbetreuung ihrer Kinder haben, gleichzeitig aber der INEOS-Facharbeiter und seine Frau, die im Schichtdienst im Altenheim schuftet, Höchstbeiträge zahlt und kaum noch weiß, wie die finanziellen, infrastrukturellen und personellen Ressourcen für die Alltagsbewältigung eigentlich herkommen sollen. Auch das ist Realität- hier in meinem Umfeld (arme, arme Großstadt, um nicht zu sagen: kaputt gewirtschaftet) tausendfach diskutiert.
jagothello am 24. August 10
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