Viel wird derzeit nachgedacht über die Frage, ob die Folterung des Täters Gäfgen angemessen war vor dem Hintergrund, dass der Verbringungsort seines Opfers rasch ermittelt werden musste, um es gegebenenfalls retten zu können. In seltener Eintracht war sich Volkes Stimme einig mit der Polizei: Jawohl, dem Täter auf´s Maul, damit er die Wahrheit ausspucke. Genutzt hat es dann nichts, wie man weiß. Der Dienstherr sowie die Strafjustiz hat die Frage bekanntlich bereits ein wenig anders bewertet. In dem milden Urteil gegen den Vernehmungsbeamten schimmerte jedoch Sympathie mit seinem Tun hindurch; aber doch: Es gab Sanktionen und damit eine Unrechtsvermutung.
Nun wurde auf die Klage Gäfgens hin auch eine zivilrechtliche Bewertung vorgenommen und siehe da: Das Gericht kommt zu einer unumstößlichen Einschätzung, trennt Verantwortung & Schuld für die Untat vom gesetzlich verbrieften Anspruch auf rechtsstaatliche Behandlung und spricht dem verurteilten Mörder 3.000,- € Schmerzensgeld für erlittene Traumatisierungen zu. Landauf, landab nun natürlich Empörung, Toberei und Widerstand. Verständlich, einerseits.
Andererseits geht es zur Beurteilung eines solchen Falls nicht ohne eindeutiges rechtliches, moralisches und v.a. demokratisch legitimiertes Bezugssystem. Dieses liegt vor und zwar in Form der einschlägigen Gesetze. Die Richter, also text- und geisteswissenschaftlich gestählte Hermeneutiker, haben es sich, so meine Vermutung, mit ihrer Entscheidung gar nicht großartig schwer machen müssen: Zu offensichtlich der Sachverhalt, zu deutlich das psychologische Gutachten, welches die seelischen Folgen der angedrohten Folterung beschreibt, zu offenkundig die Nicht-Gesetzeskonformität des Polizisten.
Wer, so frage ich, bezieht sich von all den Urteilskritikern eigentlich noch derart differenziert auf ein ethisches Wertesystem und kommt auf der Basis von rationalen Erwägungen zu einem- meinetwegen anderen- Urteil? Denkbar wäre das bsp., wenn die Strafprozessordnung behördlich angewandte Folter zuließe, was sie aber aus guten Gründen eben nicht tut. Man denke nur an die zahlreichen Zielkonflikte, die der polizeiliche Vernehmungsalltag fortan mit sich brächte sowie unzählige neue Missbrauchstatbestände. Von einer Verwischung der Gewaltenteilung, Kernelement unserer demokratischen Verfassungsordnung, ganz zu schweigen. Nein, nein: Bloße Betroffenheit, bloßes Meinen reicht im Kontext der rechtlichen Würdigung nicht. Eine andere Entscheidung des Gerichtes war gar nicht möglich.
Ein anderes Tun des Polizisten aber auch nicht! Jedenfalls kein befriedigendes. Mich erinnert die Situation, der er sich entgegensah, an die berühmten Dilemma-Probleme Lawrence Kohlbergs, an denen er exemplifizierte, wie Moral sich ausbildet und v.a. zu welchen Stadien ihrer Entwicklung sie geführt werden kann im Laufe eines Lebens. Zum Beispiel: Ein Spaziergänger überquert eine Brücke, unter der Bahnschienen verlaufen. Von rechts sieht er einen Güterzug sich nähern, von links einen Personenzug. Beide fahren auf demselben Gleis. Unter der Brücke bewegt sich eine Weiche, um den Güterzug umzuleiten; sie klemmt. Schnelles Handeln ist erforderlich. Um hundertfaches Menschenleben zu retten, stößt der Wanderer einen beleibten Menschen, der auf dem Geländer der Brücke sitzt, auf die Gleise hinab. Sein Gewicht löst die Weiche aus, er stirbt, doch die Züge verfehlen sich.
Kohlberg beschreibt sechs Stadien der moralischen Entwicklung zwischen reiner Autoritätshörigkeit (
Gut ist, was die Mutter sagt.) und Orientierung am kategorischen Imperativ Kants, etwa:
Mein Handeln ist geeignet, um jederzeit als Maßstab für Entscheidungen anderer Menschen zu gelten.
In Stadium 5 bereits, das längst nicht alle Menschen erreichen, nimmt der Mensch eine Art Metaperspektive ein zu den vorherrschenden Regeln und Werten seiner Gemeinschaft. Sie bilden nach wie vor den maßgeblichen Orientierungsrahmen für jegliche Beurteilung auch eigenen Verhaltens, können aber unter bestimmten Bedingungen modifiziert werden. Dies geschieht aber nie im Sinne eigener Interessen, sondern um übergeordnete, weithin akzeptierte Ziele zu verfolgen; etwa, einen entführten Bankierssohn zu retten oder einen Personenzug vor dem Entgleisen zu bewahren. Die partikularen, geschützten Rechte einzelner werden im Zuge eines Interessenabgleichs bewusst und aktiv verletzt; wohl wissend und in Kauf nehmend, dass die Rechteverletzung dazu führen kann und wird, Sanktionen zu erleiden. Eine Situation also, die weit über die Legitimation des sog. Nothilfetatbestandes des StGB hinaus geht.
In solch einer Lage befand sich der vernehmende Beamte; wünschenswert wäre gewesen, dass die Richter, trotz ihres abschließenden, korrekten Urteils, sie gewürdigt oder zumindest dargelegt hätten. Sie haben es nicht getan und damit versäumt, die Kluft zwischen dem Rechtsempfinden der Laien und ihrer professionellen Perspektive zu verringern. Bedauerlich!
Ich weiß nicht, ob Polizisten mit Kohlberg vertraut gemacht werden. Ich wünschte und hoffte aber, dass es mehr Menschen in unserem Gemeinwesen gäbe, die es ebenso wie der nun ein zweites Mal verurteilte Beamte bis hinauf auf die fünfte Stufe schaffen.