Kritik an einer kulturellen Institution: Dem GYMNASIUM
Gymnasien in Deutschland bedürfen dringender spirituell-pädagogischer Reform. Dem gesetzlich verbrieften Kernanspruch der Schülerschaft auf Individualisierung kommen sie viel zu wenig nach. In den Kollegien fehlt es häufig an Expertise: Wie gehe ich als Lehrkraft mit Heterogenität um? Wie ist eine Lernumgebung zu gestalten für 28 Kinder, die fünf oder sechs verschiedenen Lerntypen entsprechen? Wie finden soziokulturelle Hintergründe angemessene Berücksichtigung? Verstehe ich die systemischen Bedingungen, denen Kinder und Jugendliche in komplexen Klassengemeinschaften ausgesetzt sind und wie ist konstruktiv mit ihnen umzugehen? Um mal einen möglichen Fragehorizont zu entwerfen.
Gymnasien stellen sich solchen und ähnlichen Problemen häufig deshalb nicht, weil sie ihnen gleichgültig sind. Gleichgültig sind sie ihnen, weil es niemanden gibt, der ihre Lösung einfordert. Eine Rolle spielt auch das in jahrzehntelanger Wahrnehmung aufgebaute, vorprofessionelle Bild der Schulform als Kaderanstalt, die man (hört, hört!) selbst ja auch erfolgreich durchlaufen hat. Die Eltern trauen sich nur ungern aus der Deckung, denn schnell setzen sie sich dem Verdacht aus, bloß die Leistungsunfähigkeit ihres Kindes kaschieren zu wollen.
Gymnasien verstecken sich, nachdem sie versagt haben, gerne hinter der Schutzbehauptung, das Kind sei eben nicht intelligent genug- wobei mit Intelligenz lediglich umgangssprachlich eine vage kognitive Qualität gemeint ist, die intellektuelle Sprachrezeption über 6 Stunden zulässt und stimmige Synapsenverbindungen herstellen hilft, die dann als Lernzuwachs definiert werden. Transfer wird durchaus verlangt aber kaum trainiert. Gemeint ist zudem ausschließlich der auditive Lerntyp, der disziplinierte Hörer, der früherwachsen Focussierte- mithin eine Chimäre.
Gymnasien machen es sich also sehr einfach. Wer in besagtes Muster nicht passt, wird selektiert. Die Verantwortung dafür wird dem Kind zugeschoben, vielleicht den Eltern, nie aber der Schule. Es heißt gerne:" Tut uns Leid, aber ihr Kind ist nicht gymnasialtauglich." Dabei ist gymnasialtauglich kein verwaltungsrechtlich und schon erst recht kein pädagogisch belastbarer Begriff. Niemand offenbar weiß so recht, was das eigentlich heißen soll: gymnasialtauglich. Die PISA-Studie definiert das für Deutschland wenig schmeichelhaft ungefähr so: Gymnasialtauglich sind Kinder aus stabilen, bildungsaffinen Elternhäusern, die aufgrund ihres soziokulturellen und ökonomischen Status´die Bildungskarriere der Sprösslinge aktiv lenken und gestalten können. Eine Gesellschaft sollte aktiv befragt werden, ob sie auf dieser Basis einen Großteil ihrer sozialen Chancen vergeben möchte.
Gymnasien verschieben auf diese Art und Weise, ohne jeden demokratisch oder rechtlich legitimierten Auftrag, die Funktionen schulischer Bildung fort von Legitimation, Qualifikation und Sozialisation hin zur Selektion; der einzigen der vier klassischen Aufträge der Schule, die in sich keinen pädagogischen Kern trägt. Hiermit einher geht die wenig durchschaute Perpetuierung gesellschaftlicher Besitzverhältnisse.
Gymnasien realisieren nicht genügend, dass ihr Kerngeschäft die unterrichtliche Förderung von Individuen ist. Gerne wird der hohe fachliche Anspruch betont, viel zu wenig aber ein hohes, pädagogisches Ethos bzw. die didaktische Kunst, die Schülerschaft a) zu motivieren und b) zu befähigen. Denn darum geht es im Schulischen immer: Möglichst zielgleich 30 Kinder an möglichst hohe fachliche Kompetenzen heranzuführen. Nicht sie stellen in pädagogischen Kontexten die crux dar (sie sind vorgegeben), sondern die Kunst ihrer Vermittlung.
Gymnasien bersten über mit gefrusteten, überforderten Lehrern, weil sie genau dies nicht verstehen: Ihr Kerngeschäft ist kein wissenschaftliches, sondern ein pädagogisches. Ihre Probleme und die der Schülerschaft sind nur pädagogisch zu lösen. Der habilitierte, arbeitslose Quereinsteiger ist nicht heillos unterfordert mit dem Stoff, sondern, oft genug, heillos überfordert mit dem pädagogischen Anspruch. Leider gilt das häufig auch für ehedem gut ausgebildete Kräfte, die ohne stetige Fortbildung und vor allem bar jeder empathischen Öffnung für die vielfältig sich umgestaltenden Belange einer sich rasant wandelnden Schülerschaft im Alltagesgeschäft kläglich scheitern.
Gymnasien erzielen selbstverständlich unter den gegebenen strukturellen Bedingungen die besten Abschlussergebnisse. Zuhilfe kommt der tradierte Mythos "Gymnasium" sowie, siehe oben, die bildungsaffine, bürgerliche Eltern-Klientel, die im Zweifel alle schulischen Defizite schon irgendwie ausbügelt. Die Ergebnisse dürfen aber nicht den Blick verstellen auf zweierlei: Zum einen macht das Gymnasium viel zu wenig aus seinen optimalen Startbedingungen: Ein Armutszeugnis ist es, eine Schülerpopulation mit Notendurchschnitt von 2,0 aufzunehmen und mit 2,75 zu entlassen. Keiner anderen Schulform würde solch eine katastrophale Bilanz durchgehen. Zum anderen bemisst sich, wie auch etwa an einer Förder- oder Hauptschule, die Qualität einer Schule nicht an hohen fachlichen Standards alleine, sondern daran, ob eine möglichst hohe Quote der Schülerschaft zu optimalen Abschlüssen geführt werden kann. In diesem Sinne muss die pädagogische Qualität der Arbeit an einer städtischen Hauptschule u.U. durchaus höher bewertet werden als die eines privaten "Elite"-Gymnasiums, in dem dutzende Kinder unter ihren Möglichkeiten bleiben (müssen).
Gymnasien müssen, das ergibt sich aus dem Gesagten, ihre Paradigmen wechseln. Weg von der Ideologie des Selbsttuns, hin zur pädagogisch aktiven Vermittlung gerne auch allerhöchster Fachstandards. Und zwar für zumindest alle diejenigen, deren "Tauglichkeit" dann wirklich spätestens nach der Qualifizierungsphase der Stufen 5/6 nachgewiesen ist.