Gesamtschulen? Gesamtschulen!
Die CDU NRWs bekämpfte Gesamtschulen jahrzehntelang mit einer Stutenbissigkeit, die durchaus geeignet war, auch überzeugte Verfechter des dreigliedrigen Schulsystems zu befremden. So wie es dieser Tage Mode geworden ist, haben sich die Konservativen unter dem Druck der Ereignisse eines ganz anderen besonnen; also eine "Kehrtwende" vollzogen. Gesamtschulen käme, so die neue Sprachregelung, eine "wichtige" Bedeutung zu in der Schullandschaft NRWs. Zunächst sogar hieß es "sehr wichtig"; die Adjektiv-Determination entfiel dann irgendwann ersatzlos- aber: immerhin.
Mit "Ereignissen" ist natürlich nichts anderes gemeint als insbesondere der Wähler- bzw. Elternwille. Die Menschen stimmen nämlich mit den Füßen ab und melden ihre Kinder derart verstärkt an den Gesamtschulen an, so dass diese sich gezwungen sehen, bis zu 50% der Interessierten abzulehnen. Das gibt Unmut, wie man sich denken kann.
Vor gut einem Jahr noch tönte der damals verantwortliche Staatssekretär Wienand, die Gymnasien seien "leistungsstärker" als die Gesamtschule. Das war aus dem Munde eines politisch und administrativ Verantwortlichen eine äußerst merkwürdige Einlassung, pure Ideologie, reines Wunschdenken, bar jeglicher Sachkompetenz, ohne Bereitschaft zur Differenz und ernsthaften Betrachtung. Anne Will würde sagen: unseriös. Sachlogisch in etwa auf dem Niveau der Feststellung, dass auf dem Nürburgring im Mittel schneller gefahren wird als auf der A61 zwischen Koblenz und Andernach. Lieber Herr Ex- Staatssekretär: Woran liegt´s? Sie wissen es nicht? Vielleicht ist eben auch dies wieder ein Mitgrund dafür, dass Sie nunmehr Ex- Staatssekretär sind.
Gesamtschulen stehen dezidiert nicht in Konkurrenz zum Gymnasium, jedenfalls nicht bezüglich des Anspruches, möglichst die Gesamtpopulation eines Jahrgangs zu akademischen Würden, sprich zum Abitur, zu bringen. Ein solcher Anspruch wird schon gesetzlich unterbunden. Dennoch warf der ranghöchste Schulbeamte des Landes Gesamtschulen vor, nicht mit ähnlichen Notenergebnissen aufzuwarten, wie das Gymnasium. Auch wenn der aktuelle Staatssekretär, Ministerin Löhrmanns Ludwig Hecke, die unterschiedlichen Rahmenbedingungen durchaus würdigt und sie gar strukturell weiter stärken möchte, verdient das wirkungsmächtige Klischee von der leistungsfernen Gesamtschule, verbreitet von den Vertretern des Volkes bis 2010, natürlich eine Erwiderung.
Gesamtschulen arbeiten unter ganz anderen Voraussetzungen, häufig mit einer stark heterogenen Schülerschaft, der sich die gegliederte Regelschule schlichtweg verweigert. Das Gymnasium muss sich vor diesem Hintergrund zunächst einmal fragen lassen, wie es eigentlich kommt, dass man es vielfach nicht schafft, den Notendurchschnitt der neuen 5.-Klässler (um 2,0) zu halten bzw. bis spätestens zum Abitur auszubauen. Gemessen an den Leistungen der Eingangspopulation gelingt es Gesamtschulen deutlich besser, ihre Klientel erfolgreich auf die diversen Zentralen Prüfungen vorzubereiten und ihre Potenziale zu entwickeln.
Ferner verweigern die oftmals reformunwilligen und wohl auch reformunfähigen Gymnasien den Rechtsanspruch auf Förderung nach individuellen Neigungen und Schwächen. Es fehlen hier schlicht die nötigen Voraussetzungen: Strukturen, pädagogische Kompetenz, Ethos. "Individualisierung" aber ist abgesehen von ihrem mittlerweile rechtswirksamen Status das Schlüsselkonzept in der Post-PISA- Epoche, geheiligte Kuh der modernen Lernforschung und im Übrigen gang und gäbe in den erfolgreichen PISA- Staaten. Die skandinavischen PISA- Stars sind, man glaubt es kaum, in den 1970ern in NRW in die Lehre gegangen und zwar in Bielefeld: Hartmut von Hentigs Laborschule dort prägte nicht nur hiesige integrale Schulkonzepte, sondern auch das nordische Gesamtschulparadigma- heute weltweit bewundert aber eben auch ohne Konkurrenz dort zu einem dreigliedrigen Regelbetrieb.
Sture Norlin, schwedischer Schulleiter und Bildungsforscher, erinnert nun auf Vortragsreisen durch Deutschland in - technisch allerdings mangelhaften (er hat das Abitur ja schon) - seinen Vorträgen an diese herrlichen Traditionen und ermuntert mit feinen Argumenten und Beispielen aus seiner Praxis dazu, Heterogenität zuzulassen. Sie ist nun einmal gesellschaftliche Realität, ist es mehr und mehr geworden und letztendlich wohl auch immer schon die entscheidende Legitimation der Gesamtschule gewesen, die ja nicht zufällig ihre Ursprünge in Zeiten erhöhter Migration erlebte. Pädagogisch hat sie 40 Jahre lang Zeit und Gelegenheiten gehabt, auf jene sozialen, kognitiven, kulturellen und affektiven Unterschiede der Menschen didaktisch zu reagieren: Heterogenität heißt und hieß die Aufgabe. Die Antworten Individualisierung, Integrität und Kooperation.
Und Sture Norlin hat Recht: Gesamtschulen haben die Kompetenz entwickelt, auf jene Heterogenität die pädagogischen Antworten zu finden. Hier liegt ihre Stärke und hier grenzt sie sich ab. Sie hat, muss man sagen, ihre Hausaufgaben gemacht. Nachholbedarf hat insbesondere das Gymnasium. Auf die vielfältigen Aufgaben des akademischen Lehrbetriebs ist seine "Friss- oder- stirb"- Mentalität jedenfalls keine angemessene Antwort mehr.
In der abschließenden Diskussion machte Norlin uns Bildungs-Nachzügler subtil auf zweierlei aufmerksam: Ein Unding ist es, solch heiklen Fragen nicht von Fachleuten entscheiden zu lassen, sondern von Politikern; häufig genug von solchen, die lediglich die Mittelverteilung im Blick haben. In Schweden ist eine solche Kompetenzverteilung offenkundig undenkbar. Und (nach entsprechender Nölerei aus dem Plenum): Politische Zustände und Zuständigkeiten vergibt in einer Demokratie das Volk, der Souverän. Niemand darf sagen können, "ja, aber da war nun mal nichts zu machen: Die Schulverwaltung...". Diese Nachhilfestunde von Demokrat zu Demokraten erschien mir jedenfalls wesentlich weniger zynisch als die klugen Tipps derzeit wieder nach Afrika: "Ihr müsst selbst die Wende zum Besseren herbeiführen. Die aufgeklärte Welt kann da nicht helfen. Veränderung funktioniert nur von innen."
jagothello am 31. März 11
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