Des Zynikers Traum, an sich: Keith Richards legt einen 750-Seiten- Lebensbericht vor ("Believe it or not, I remember all of it."). Und wird auch erstmal nicht enttäuscht, im Gegenteil. Die nach 45 Jahren wohl mal überfällige Abrechnung mit dem eitlen Despoten Sir Jagger gipfelt in einer schönen (und wichtigen) Relativierung dessen sexueller Leistungsfähigkeit ("schwach bestückt, extrem dicke Eier") und auch sonst findet sich viel Anekdotisches: Was ging wirklich ab zwischen Ron Wood und der 22-jährigen kanadischen MP-Gattin, als sie sich 2 Wochen lang im Hotelzimmer verbarrikadierten? Ja, was mag da abgegangen sein?! Keith "the keef" war quasi immer gleich dabei und bietet allerschönste Schlüssellochperspektiven. Vor wenigen Jahren war das noch ganz anders; da hielt man zusammen und solch pikanten Interna blieben in den eigenen vier Wänden, mochte die Fleet-Street-Meute daraus machen, was sie wollte. Was sie natürlich tat und die Geschichte Jagger andichtete; mit dem zweiten Gitarristen funktionierte der Plot wohl nicht so gut.
Nun ja, schon damals knisterte es im Gebälk offenbar ganz gehörig, auch wenn man diskreter blieb. Es bestand wohl noch Hoffnung. Im Laufe der Achtziger dann aber wurde KR derart federführend was die kompositorische (hört, hört!) und musikalische Arbeit betraf, dass Jagger seine Pfründe bedroht sah und sich absetzte. Aus dieser Zeit sind diverse Soloprojekte überliefert, deren Charakter das Dilemma der glimmer twins, ihr tiefes Zerwürfnis illustriert. 1992 besuchte ich ein
Jagger-Konzert im Hammersmith-Odeon-Theatre in London und bekam geboten, was man sich eben so verspricht von einem Jagger-Auftritt: Glamouröses, spektakuläre Musiker auf der Bühne (Garry Moore, Buddy Guy, Ron Wood, Charlie Watts), eine im Background tänzelnde Jerry Hall und einen tatsächlich unglaublich charismatischen Leader. Ich weiß nicht, ob KR irgendwo im Publikum hockte, aber ich denke, das hätte ihm die Tränen der Freude in die Augen getrieben: Eine so lang ersehnte Abkehr von den "Miss you"- Disco- Studio 54- Tendenzen- ein Zurück zu den Wurzeln der Band, eine Verneigung vor dem schwarzen Chicago- Blues. Da musste jemand erst gehen, um zurückzukommen!
Eine derart exaltierte, selbstbewusste Performance hatte ich bis dahin nicht gesehen und auch später wurde mir solches außer von MJ nur noch einmal zuteil und zwar in der Literatur- in Thomas Manns "Mario und der Zauberer", aber das ist natürlich etwas ganz anderes.
Keith, ebenfalls 1992 solo bzw. mit seiner karibisch-amerikanischen x-pensive-winos- connection unterwegs, dann ganz anders. Ein Bluesmusiker mittlerweile durch und durch. Einer, der nach 30 Jahren Arbeit als Profigitarrist experimentiert, z.B. mit der 5-saitigen Gitarre und jamaikanischen Reggaeelementen. Als Frontman auffallend zurückhaltend, sehr, sehr freundlich, auf Kuschelkurs mit dem Publikum, sichtlich stolz auf seine Band und froh, Musik in bescheidenem Umfeld (7- oder 8.000 Zuhörer) zu zelebrieren und nicht das Mega- Show- Event mit seinen speziellen Gesetzen. Sein
Konzert in Köln 1992 kam aber auch, wenn ich mich recht erinnere, ein bisschen langweilig daher; heruntergeregelte Instrumente, ein lahmer Drummer, die unsägliche Sporthallenatmosphäre...
KR in seiner Biografie aber ist im Kern eben dieser KR; jemand, der Musik liebt und jeden liebt, der das auch tut. Jemand, der sich noch als weltberühmter Multimillionär und hall of fame-Zelebrität freut wie ein kleines Kind, wenn der Presley-Gitarrist Scotty Moore ihm einen 20 Jahre nicht durchschauten Akkord zeigt, der seine Olympier Buddy Holly und Jerry Lee Lewis enttäuscht zum Teufel schickt, weil die ihre Musiker menschlich schlecht behandeln. Jemand, der unsterbliches "Zeug" gemacht hat wie "Exile" oder "Goats head soup"; niemand, über den ich mich lustig mache.