Schwarze Schwäne
Öffentlich-Rechtliche Fernsehanstalten untersuchen gerne den Willen des Bürgers, sein Empfinden, sein Tun. In eigens erdachten Barometer-Sendungen präsentierten die Präsentatoren (Journalisten?) Zahlenkolonnen und Datenanimationen, welche wiederum von Fremd-Dienstleistern wie Infratest erstellt werden. Das Wort dort führen Sozialforscher und Statistiker. Von ihnen erfährt man bsp., dass 57,5% der Wahlberechtigten zwischen 45 und 55 mit Merkel zufrieden sind, sofern sie jedenfalls grundsätzlich der CDU zuneigen und an einem bestimmten Tag, sich freuend auf das Feierabend-Bier, auf einer Skala von 1 = sehr zufrieden bis 5 = sehr unzufrieden einen Wert besser als 3 in den Telefonhörer geraunzt haben.
Hinter all dem bunten Treiben steht, so wird sehr gerne nachdrücklich betont, die Stochastik als unbestechliche Leitwissenschaft. Die solcherart suggerierte Objektivität allerdings ist eine Chimäre und pure Illusion! Die Mathematik bringt sicherlich Ordnung in Prozentwerte, sie macht aber keine Aussagen darüber, ob jene nun auch unvoreingenommen und zuverlässig ermittelt wurden. Deuten kann sie gar nicht. Vielleicht lässt man auch einmal das ein oder andere Detailergebnis im Sinne eines gewünschten Gesamtbildes unter den Tisch fallen? Oder verzichtet auf gar zu kompromittierende Fragen gleich ganz?
Das fotogene Jonglieren mit komplexen Umfragewerten, abgebildet wie selbstverständlich mit Zahlen, suggeriert aber in jedem Fall "News"- Kompetenz und hat insofern eine wesentliche ästhetische Funktion im Gesamtkontext "Nachrichten" inne- so ähnlich wie die Uhr am Anfang: Man beginnt mit objektiv Korrektem, einer atomar synchronisierten Uhrzeit und nach diesem Muster, so das implizite Versprechen, geht es dann weiter. Nicht schlecht sicherlich für die "Corporate Identity" einer TV-Sendeanstalt, die Gebührengeldererhebung über einen journalistischen Aufrag legitimiert.
Die Statistiken aber sind, und das ist das eigentlich Problematische, geeignet, die Wirklichkeit zu verzerren, ihre Wahrnehmung zu verfälschen, indem sie vorgaukeln, die Welt rational und umfassend zu betrachten.
Bereits in Klasse 8 lernen Kinder in Mathematik Techniken kennen, um statistische Ausreißer, signifikante Abweichungen zu ignorieren, bzw. eine Welt zwischen den Extremen als Norm zu definieren! Diese Techniken heißen "Zentralwerte", "arithmetische Mittel" oder auch "Quartile".
Ihnen gemeinsam ist das Bestreben, die Mitte zu finden, die Mitte als Ort der Relevanz. Dabei sind es besagte Ausreißer, die so häufig die subjektive, aber auch die öffentliche Wahrnehmung und damit die Politik bestimmen, also die Regeln unseres Zusammenlebens. Dies aber nur retrospektiv, denn den Ausreißern eigen ist, dass sie, im Unterschied zur "Mitte", mit den Werkzeugen der Mathematik schwierig vorherzusehen sind, was ihre Unbeliebtheit noch deutlich steigert. Sie machen uns fassungslos, ratlos, hilflos und zwar gerade wegen ihrer allgemeinen Relevanz.
Der 11. September war so ein Ausreißer- nicht vorhersehbar, bedeutsam, bestenfalls im Nachhinein interpretierbar- die stochastischen Regeln der Wahrscheinlichkeiten, basierend auf zahlengestützten Zukunftsprojektionen, sprengend.
"Schwarze Schwäne" nennt der Sozialwissenschaftler, Philosoph und Mathematiker Nassim N. Taleb solche Ereignisse. Sie sind rational wenig fassbar und erfordern, so denke ich, eine Rückbesinnung von Politik und Journalismus zu alten Kardinaltugenden: Weltverständnis, Welterklärung im Dialog und zwar vor dem Hintergrund einer wissend-kompetenten, am besten humanistischen Weltanschauung. Im Medium der Sprache, des Sprechens und Schreibens. Die Welt und die Botschaft von ihr müssen endlich wieder komplizierter werden!