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Theodor Fontane forderte, ein guter Roman müsse auf der ersten Seite "schon alles enthalten". Alles enthalten. Effi Briest kann da als Musterbeispiel gelten, denn auf Seite 1 ist dort gleich zu Beginn tatsächlich bereits angelegt, was dann später deutlicher vor die Augen kommt an "Schönem, Gutem, Barem" (Robert Gernhardt). Da verrichten dutzende Metaphern ihr suggestives Werk und auch sonst ist das eine stark verdichtete Sprache, mit der Fontane seine Strippen webt. Sicherlich schadet es nicht, etwas zur Romantheorie von Fontane gelesen zu haben, um dem Diktum nachzuspüren, aber doch- es funktioniert.
In Erweiterung und geringer Abwandlung möchte ich aber ergänzen: Ein guter Roman enthält alles (oder doch so einiges!) im ersten Satz. Und so kommt es, dass ich erste Sätze sammele und Bücher generell vorverurteile nach Optik, Gestalt und Beschaffenheit ihrer Eingangspforte. Ein Jahr Lektüre der Josephs-Tetralogie hätte ich anders zugebracht (und bestimmt nicht besser), wäre Thomas Mann nicht verfallen auf dieses dunkle, teutonische, mysteriöse "Tief ist der Brunnen der Vergangenheit." Ein Satz, der mir seit nunmehr 20 Jahren spukt.
Weitaus prosaischer, wenn auch durchaus wirkungsvoll die beiläufige Feststellung Philip Roths (in "Die Anatomiestudie"): "Jeder Kranke verlangt nach seiner Mutter." Ganz interessant dann übrigens auch der zweite Satz, nebenbei.
Roth kann aber natürlich auch ganz anders, nämlich mit dem diabolischen Holzhammer: "Schwöre, daß du keine anderen mehr fickst, oder es ist Schluß." (Sabbaths Theater) Womit das kommunikative Klima zwischen ihm & ihr hinreichend charakterisiert und die Erwartungshaltung der Leserschaft definiert wird!
Ganz hervorragend natürlich auch Thomas Lehrs "Ein Augenblick." (aus "42") und Walter Moers´ schlichtes "Hier fängt die Geschichte an." (Die Stadt der Träumenden Bücher). Die Positions-Adverbiale "Hier" hat es "hier" durchaus in sich.
Ein Meister des ersten Satzes dann auch Javier Marias. Seelische und sexuelle Obsessionen- und auch sonst! "Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, daß eines der Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres eigenen Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Eßzimmer befand, ihr Herz suchte." (Mein Herz so weiß) "Ein Mädchen, das kein Mädchen mehr war." Hier sind sie: Die berühmten Iserschen "Leerstellen", durch die ein Text Literatur und Literatur zur Kunst wird. Bei Marias ist der erste Satz in erster Linie sicherlich weniger Programm und eher Appetizer- ein sehr schmackhafter aber ganz sicher. Ein Ignorant, wer da nicht tausend Fragen stellt und beantwortet wissen will.
Gefangen nahm mich kürzlich Don Winslow mit: "Sie hält ihr totes Baby in den Armen" (erschreckend, welch Strahlkraft das Perverse ausübt!), das den Auftakt bildet für sein knallhartes 700- Seiten- Drogenmafia- Opus "Tage der Toten" und einfach umwerfend einer der Großmeister der Zunft, nämlich der fantastische T.C. Boyle zu Beginn seines zweitstärksten Romans (Drop City): "Der Morgen war ein Fisch im Kescher, glitzernd und zappelnd am pechschwarzen Rand ihres Bewußtseins, aber sie hatte noch nie einen Fisch mit einem Kescher gefangen, ebensowenig wie mit der Angel, so daß sie nicht recht sagen konnte, ob oder wie oder warum." So würde auch Kafka heute einen Roman beginnen, lebte er noch.
jagothello am 04. Dezember 10
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