Hitlers Orgasmen
Adolf Hitler streift durch Wien als mittelloser, 19-jähriger Student der Kunstakademie. Er kann seine Miete nicht zahlen und lebt von der Hand in den Mund. Seine spärlichen Einkünfte, die er als Kofferträger im Bahnhof bezieht, steckt er in seine Garderobe. Ohne halbwegs anständig gekleidet zu sein, lässt man ihn nämlich nicht in die Oper, in der er sich seinen geliebten Wagner-Opern hingibt. Am liebsten Lohengrin, Tristan und Isolde sowie Tannhäuser. Rienzi beeindruckt ihn tief wegen der "Reinheit" des Titelhelden. Adolf ist ein Einzelgänger, tief verunsichert, schüchtern, selbstmitleidig, jähzornig. Frauen gegenüber hat er Komplexe. In der Akademie fällt er in Ohnmacht, wenn sich das Nacktmodell entkleidet. Natürlich ist er "Jungfrau".
Durch den jüdischen Arzt seiner mittlerweile verstorbenen Mutter lernt er Sigmund Freud kennen. Der verspricht, ihn zu therapieren.
Im Zuge der Begegnungen mit Freud lernt Hitler wieder, zu träumen, sich seinen Wünschen, Hoffnungen und Ängsten zu öffnen. Zugang, zu seinem emotionalen Erleben zu finden. Er erkennt, dass der Hass und die Wut auf alles und jeden nichts anderes ist als Selbsthass und Wut auf sich selbst. Z.B. darauf, die Mutter nicht vor den Prügelattacken des grausamen Vaters beschützt zu haben.
Freud deutet einen Traum Hitlers als sexuelle Vision. Der spürt er nun nach. Ausgerechnet besagtes Nacktmodell erbarmt sich seiner und zeigt ihm, wie es geht. Die Beziehung wandelt sich dann bald, denn Hitler lernt viel mehr, als sie beibringt: Er lernt, dass gemeinsame Sexualität nicht nur bedeutet, Orgasmen zu bekommen, sondern, Lust zu geben, zu spenden. Sie verliebt sich in ihn.
Hitler gewinnt Raum. Er nutzt ihn, um nachzudenken, statt wie vorher lediglich die Gedanken schweifen zu lassen. Er erkennt, dass er als Maler nichts taugt, dass seine Wagner-Verehrung nichts zu tun hat mit kulturellem oder geistig- intellektuellem Gewinn, sondern nichts anderes ist als sentimentalische Schwärmerei. Er analysiert die Situation glasklar ohne Schuld bei anderen, z.B. den Professoren, die sein Talent nicht würdigen, zu sehen. Hitler entwickelt Alternativen und wird 30 Jahre später kein satanisches Chaos stiften.
Dieses Fallbeispiel der Menschwerdung eines Menschen bildet den ideellen Kern des Romans "Adolf H. Zwei Leben" von Eric-Emmanuel Schmitt. Parallel dazu erzählt Schmitt die Geschichte des zweiten Lebens, des historischen des Adolf H., in dem es keine bestandene Aufnahmeprüfung an der Akademie, keine Begegnung mit der Psychoanalyse, keine Therapie, keine Reflektionen und keinen ehrlichen, echten menschlichen Kontakt gab.
Schmitt schildert in einem Nachwort seine Motive, der seelischen und moralischen Degeneration Hitlers nachzuspüren. Seine zugrunde liegende These ist, dass es eine Wahl gibt, Entscheidungsfreiheit, Ich oder Gegen-Ich zu werden. Es steht uns auch unter ungünstigen Startbedingungen frei, Mensch zu werden und Menschlichkeit auszubilden. Mehr noch: Es ist Pflicht.
Dem Verstehenwollen haftet an, erklären und somit gleichzeitig entschuldigen zu können. Da ist es natürlich viel einfacher, den Verbrecher und seine Verbrechen zu determinieren als Produkt seiner Umwelt, der Geschichte. Schmitt sieht das, hat die Diskussion wohl auch geführt. Sein Hitler bleibt jedenfalls schuldig, weil er sich aktiv von den Bedürfnissen anderer abkapselt; weil er sich aktiv für einen Egozentrismus entscheidet, der dezidiert die Bedürfnisse seiner Mitmenschen vernachlässigt.
In seinem Buch "Der Verlust des Mitgefühls" bestätigt der schweizer Psychoanalytiker Arno Gruen übrigens jede Zeile des Schmitt' schens Gedankenexperimentes. Am Beispiel diverser KZ-Täter werden die Motive von Gewaltexzessen zurückgeführt auf ganz ähnliche Mechanismen wie bei Schmitt beschrieben. Bücher, die in den Amazon-Warenkorb zumindest eines jeden pädagogisch tätigen Menschen gehören.