Nachtzug nach Lissabon
Ein Kollege von mir ist tot. Minutiös geplant hat er vor seinem Sterben seine eigene Totenfeier; sich gewünscht, dass aus Merciers Roman "Nachtzug nach Lissabon" gelesen werde.
Abbruch, Umbruch, Aufbruch- das sind die Themen dieses unprätentiösen Textes und seines Helden, des Altphilologen Gregorius. Nach 30 Jahren pädagogischer Tätigkeit an einem Gymnasium bewegt ihn eine Zufallsbekanntschaft (natürlich mit einer Frau; der Kontakt ist flüchtig, doch dramatisch: Sie scheint sich von einer Brücke stürzen zu wollen.) zu einem drastischen Bruch mit seinem bequemen Leben. Er beendet von einer Minute auf die nächste seine Laufbahn, packt seine sieben Sachen und setzt sich in den Nachtzug nach Lissabon- einem Phantom auf der Spur, dafür mit Eichendorf`scher Sehnsucht gesegnet, die sich nach Jahrzehnten der Kerkerhaft nun Bahn bricht. Jedenfalls: eine echte Wahnsinnstat!
Derlei radikalen Inspirationen bleiben ja außerhalb der erzählten Welt zumeist aus und so war es wohl auch bei F., meinem Kollegen, dem romantischen Zufallssucher. Wahrscheinlich aber gab es in seinem Leben einen träumerischen Wunsch nach Neubeginn, ein Schwelgen in der Zeit, in der die Impulsivität und auch alles andere Mögliche noch möglich war.
So habe ich die Botschaft verstanden, als mir da vor der Friedhofskapelle stehend vorgelesen wurde. Oder besser: So verstehe ich es heute. Denn damals kannte ich den Text noch gar nicht und war mit selektivem Vortrag und Anspruch überfordert. Literatur gehört immer in den größtmöglichen Zusammenhang und so gibt es nur eins: Lesen!
jagothello am 08. Juli 10
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